Lettland

Ureinwohner kämpfen um ihre Sprache

Lettlands Liven kämpfen um ihre Sprache / Der Staat hilft mit kostenlosen Sprachkursen

(n-ost) - Riga, der Unterrichtsraum einer Sprachschule nach Feierabend. Stühle werden gerückt, die Lehrerin Erika Krautmane kommt herein und wechselt ein paar Worte mit den Schülern unterschiedlicher Altersstufen. Die Aussprache fällt den Lernenden sichtlich schwer, und das ist auch kein Wunder: Das Livische, die Sprache, die sie hier lernen, ist mit ihrer Muttersprache Lettisch überhaupt nicht verwandt, dafür aber mit dem Estnischen und Finnischen. Damit gehört das Livische nicht zur indogermanischen, sondern zur finnisch-ugrischen Sprachgruppe.Bis zum Mittelalter wurde in großen Teilen des heutigen Lettland Livisch gesprochen, und von den Liven stammt auch der Name „Livland“, der Provinz, die über Jahrhunderte große Teile des heutigen Lettland und Estland umfasste. Über die „Livländischen Kriege“ findet der Name sogar bis heute seinen Weg in die deutschen Geschichtsbücher. Das Livische selbst aber wurde im Lauf der Zeit immer mehr vom Lettischen verdrängt, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es nur noch in ein paar Fischerdörfern im nordwestlichen Landesteil gesprochen. Heute kämpft die Sprache um ihr Überleben – woher kommt dann die Motivation der Lernenden, sich mit ihr zu beschäftigen?



Livisch - nur noch in ein paar Fischerdörfern im Nordwesten vertreten. Foto: Berthold Forssman


Kursteilnehmer Dzintars Skarbovskis, 31, Redakteur und Übersetzer für technische Texte, interessiert sich für die Geschichte seines Landes und seiner Muttersprache: „Seit ich mich mit dem Livischen beschäftige, begreife ich erst so richtig, wie sehr diese Sprache die Strukturen des Lettischen beeinflusst hat. Der Kontakt mit dieser ostseefinnischen Sprache ist zum Beispiel ein Grund, warum sich das Lettische heute so stark vom Litauischen unterscheidet“, erzählt er.Währenddessen sitzt die Künstlerin Baiba Damberga in der Altstadt von Riga in einem Café und plaudert per Handy mit ihrer Tochter – auf Livisch. Dass sie dabei jemand versteht, ist kaum zu befürchten: Es gibt in Lettland nur noch rund zehn Personen, die mit Livisch groß geworden sind. Ungefähr zehn weitere haben es so gut gelernt, dass sie sich fließend unterhalten können, darunter vor allem Wissenschaftler und Sprachenfreunde. Und dann gibt es noch schätzungsweise 200 Menschen wie Dzintars, die entweder aus Interesse Livisch lernen oder livische Vorfahren haben und mehr oder weniger gut sprechen können oder auch nur ein paar Phrasen passiv verstehen.Baibas Vater war Live, ihre Mutter Lettin. Zu Hause wurde nur Lettisch gesprochen, erinnert sie sich: „So war das eigentlich in allen gemischten Familien üblich. Die Eltern fanden das besser so, weil sie glaubten, dass die Kinder dann weniger Probleme in der Schule haben würden. Und auf den Behörden kam Livisch gar nicht erst vor.“ Als sie merkte, dass der Vater mit seinen Verwandten Livisch sprach, wenn die Kinder ihn nicht verstehen sollten, war ihr Interesse geweckt: Livisch wurde eine Art Geheimsprache. Und heute pflegt Baiba zu Hause das Livische in ihrer eigenen Familie: „Wir singen Lieder zusammen, und manchmal unterhalten wir uns auf Livisch, wenn auch nicht immer.“Solche Familien gibt es heute nur noch überaus selten. Schuld war nicht unbedingt eine speziell gegen das Livische gerichtete Unterdrückungspolitik, sondern eher eine Verkettung unglücklicher Zufälle und Umstände. Die Stammregion des Livischen, sie umfasste vor allem die Dörfer an der kurländischen Küste, war in der Sowjetzeit ein absolut unzugängliches militärisches Sperrgebiet. So gut wie niemand kam zu Besuch, kaum jemand zog zu. Stattdessen verließen die jungen Leute ihre Heimat und zogen auf der Suche nach Arbeit in die Städte – wo sie dann Lettisch sprachen. Nach der Wende hatten die Menschen in der Region andere Sorgen, und fast unbemerkt starb ein livischer Sprecher nach dem anderen.



Baiba Damberga (links) im livischen Sommerlager. Foto: Berthold Forssman


Der livische Kulturverein „Livones“ bemüht sich seit Längerem, dem weiteren Verfall entgegenzusteuern. So wird jedes Jahr ein Sommerlager organisiert, in dem rund fünfzehn Menschen zusammenkommen und gemeinsam Livisch sprechen, das Übersetzen von Texten üben, Lieder singen und Theaterstücke proben. Und abends wird, gemäß einem alten Ritual, am Strand der Untergang der Sonne begangen.Der lettische Staat hilft ebenfalls, beispielsweise durch kostenlose Kurse, die nicht nur in Riga, sondern auch in anderen Städten stattfinden. Inzwischen gibt es Lehrbücher des Livischen, eine CD, mehrere kleine Literaturbände und diverse Sachbücher. Kann das Livische dadurch vor dem Aussterben gerettet werden? Baiba ist sich nicht ganz sicher: „Die Welt wird einerseits immer hektischer, und wenn man etwas auf Livisch sagen will, dauert es oft länger. Diese Zeit nimmt man sich dann nicht immer. Aber andererseits sagt man schon seit mehreren Jahrzehnten, dass das Livische demnächst aussterben wird, und trotzdem lebt es immer noch. Das ist doch auch Anlass genug für einen gewissen Optimismus.“ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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