Bürokratie statt Empathie?
Boris Sabarko war fünf Jahre alt, als in seiner Heimatstadt Schargorod das Ghetto für die Juden entstand – wie vielerorts in der Südwestukraine. Hitler hatte Transnistrien den Rumänen überlassen – als Dank für deren Hilfe im Krieg gegen Russland. Ab 1941 wurden Juden aus Bessarabien, der Bukowina und der nördlichen Moldauregion dorthin deportiert.Die jüdische Bevölkerung Schargorods wuchs in wenigen Wochen von 1800 auf 7000 Menschen an. „Es gab keinen Zaun, keine Mauer. Aber wer sich nach 18 Uhr auf der Straße blicken ließ, wurde von den rumänischen Wachposten mit Knüppeln geschlagen“, erzählt Sabarko. Der jüdische Historiker hat zahlreiche Bücher über den Holocaust verfasst und leitet heute den ukrainischen Verband der jüdischen KZ- und Ghettoüberlebenden.
Boris Sabarko, überlebte das Ghetto von Schargorod und leitet heute den ukrainischen Verband der jüdischen Ghetto-und KZ-Überlebenden / Clemens Hoffmann, n-ost
„Uns ging es schlecht, aber wir lebten immerhin im eigenen Haus“, erinnert sich der 73-Jährige an die schlimmsten drei Jahre in seinem Leben. Die Deportierten, die bei den Sabarkos einzogen, waren noch schlechter dran. Viele erkrankten, weil sie an die schlechten hygienischen Zustände auf dem Land nicht gewöhnt waren. In Schargorod gab es keine Massenerschießungen. Die Juden starben an Hunger, Kälte, Typhus und Ruhr. „Alle wussten, dass es bald zu Ende geht. Wir warteten auf den Tod“, fasst Sabarko den Schrecken in Worte.
Viele Männer aus dem Ghetto Schargorod wurden als Zwangsarbeiter im Straßenbau eingesetzt. Auch Sabarkos Mutter arbeitete: erst in einer Mühle, dann als Putzfrau in einer Polizeistation. Im Sommer schuftete sie bei der Rübenernte. Der kleine Boris wich der Mutter in diesen Jahren nicht von der Seite. „Ich habe ihr geholfen.“ War das Arbeit? Sabarko zuckt mit den Schultern. „Was so ein kleiner Mensch eben arbeiten kann: Zuckerrüben sammeln, den Putzeimer ausleeren.“Eine deutsche „Ghetto-Rente“ hat Sabarko für diese Arbeit nie erhalten. Formaljuristisch sind solche „freiwilligen“ Hilfsdienste nämlich keine Zwangsarbeit. Um diesen Opfern endlich eine späte Anerkennung zukommen zu lassen, hat das Bundeskabinett im September 2007 eine Richtlinie beschlossen: Diejenigen, die in einem Ghetto einer halbwegs geregelten Tätigkeit nachgingen und bislang dafür keine Rente erhalten haben, sollen einmalig 2000 Euro bekommen.
Weltweit geht es um rund 50.000 Betroffene. Etwa 2000 von ihnen leben auf dem Territorium der Ukraine, schätzt Verbandschef Sabarko. Das Geld sei eine „humanitäre Geste“, betont die Bundesregierung. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) versprach eine schnelle und unbürokratische Auszahlung. Im ersten Jahr sind beim Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen in Bonn rund 38.000 Anträge eingegangen. Davon stammen nach Angaben der Behörde etwa die Hälfte aus Israel, 30 Prozent aus den USA und Kanada, knapp 10 Prozent aus Ungarn.Der ukrainische Opferverband hat seine Mitglieder über die Antragsformalitäten informiert. Auch die Deutsche Botschaft in der Ukraine half bei der Aufklärung. „Viele der alten Menschen sind sprachlich nicht so gewandt, sie brauchten unsere Hilfe“, erzählt Wassily Michailowsky-Katz, der Sekretär des Verbands. Rund 1000 Anträge wurden bislang aus der Ukraine gestellt.
Wassily Michailowsky-Katz, Sekretär des ukrainischen Opfer-Verbandes / Clemens Hoffmann, n-ost
Insgesamt wurden mittlerweile 10.000 Anträge bewilligt, 100 abgelehnt. Auch 250 ukrainische Opfer haben inzwischen ihre Überweisung erhalten. Die anderen Anträge werden noch geprüft. „Das Geld ist eine große, unerwartete Hilfe“, betont Boris Sabarko. Viele Ghettoüberlebende seien allein, krank und dringend auf Medikamente oder Operationen angewiesen. „Leider wird die medizinische Versorgung bei uns immer teurer“, bedauert Verbands-Vertreter Michailowsky-Katz.
So sehr man sich über die Geste aus Deutschland freut – in einem anderen Bereich erwartet man sich mehr Entgegenkommen: Nach wie vor werden Shoah-Überlebende schlechter berentet, wenn sie das Pech haben, außerhalb der EU zu wohnen. So beträgt die Opferrente im EU-Land Bulgarien heute 216 Euro. In der Ukraine, auf dem Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion werden nur 178 Euro ausgezahlt. „Ich verstehe nicht, warum jemand in Sofia mehr bekommt als in Kiew“, ärgert sich Sabarko. Schließlich hätten die Preise in der Ukraine fast Westniveau erreicht.
Die Diskriminierung zu beenden und die letztlich geringen Unterschiede auszugleichen, wäre ein letzter Gnadendienst, den man den hoch betagten Opfern erweisen könne, meint Sabarko. Schließlich gehe es nicht um hohe Beträge und nur um einen kleinen Empfängerkreis. Über seinen eigenen Antrag auf die Einmalzahlung ist übrigens noch nicht entschieden. Sollte Boris Sabarko die 2000 Euro bekommen, wird der stolze Großvater sie wohl zum größten Teil in die Zukunft seiner vierjährigen Enkelin investieren. Die ist jetzt beinahe so alt wie er war, als ihm die Nationalsozialisten die Kindheit stahlen.
Hintergrund: Vom Ghettorentengesetz zur Anerkennungsleistung
1997 entscheidet das Bundessozialgericht: Arbeiten in einem Betrieb innerhalb eines Ghettos können grundsätzlich bei der Rente berücksichtigt werden.2002 beschließt der Bundestag das „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“. Ca. 70.000 Renten-Anträge werden gestellt, doch ist es für die Antragsteller sehr schwierig, die geforderten Nachweise zu erbringen. Mehr als 90% werden abgelehnt. Die zuständigen Landesversicherungsanstalten und Sozialgerichte führen beschämende Gründe an: die Arbeitsleistung in den Ghettos seien nicht als „freiwillig“ nach den Kriterien des deutschen Rentenrechts anzusehen,
in den meisten Fällen sei die Arbeit nicht „entgolten worden“ im Sinne des deutschen Rentenrechts viele Antragsteller hätten zum Zeitpunkt ihrer Arbeit im Ghetto noch nicht das rentenversicherungspflichtige Alter erreicht, weil sie Kinder waren.Außerdem sind Shoah-Überlebende in Osteuropa benachteiligt, da Sozialversicherungsverträge mit den jeweiligen Regierungen Direktzahlungen aus Deutschland ausschließen. Das eigentliche Ziel des Ghettorentengesetzes, die Arbeit im Ghetto mit einer Rentenzahlung zu entschädigen, gilt angesichts der hohen Ablehnungsquote als gescheitert.Im Oktober 2007 erlässt die Bundesregierung nach Protesten von Opferorganisationen und der israelischen Regierung eine Richtlinie, nach der Verfolgte für Arbeit im Ghetto als humanitäre Geste eine einmalige „Anerkennungsleistung“ in Höhe von 2000 Euro erhalten können. Voraussetzung ist, dass im Ghetto in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis „Arbeit ohne Zwang“ geleistet wurde. Zeit, Umfang und Dauer der Arbeit sind nicht konkret festgelegt. Betroffen sind rund 50.000 noch lebende Verfolgte, die sich zur Zeit des Nationalsozialismus im Ghetto aufhielten und dort arbeiteten, aber keine Entschädigung erhalten können.Die neue Richtlinie tritt neben das Stiftungsgesetz „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, welches die Entschädigung von Zwangsarbeit regelt.