Grauer Himmel über dem Maidan
Der Himmel über dem zentralen Unabhängigkeitsplatz in Kiew, dem Maidan, ist grau. Es nieselt leicht und die Fußgänger hasten eilig vorüber, die Köpfe gesenkt. Ganz anders präsentierte sich der Platz im Winter 2004/2005. Die Bilder von damals sind den Fernsehzuschauern weltweit noch gut bekannt: Wochenlang hatten bis zu einer Million Menschen im verschneiten Stadtzentrum demonstriert und campiert. Der friedliche Protest der Orangenen Revolution gegen Wahlfälschungen hatte am Ende Erfolg. In der Stichwahl ging der westlich orientierte Viktor Juschtschenko als Sieger hervor.
Angesichts der derzeitigen politischen Lage nimmt sich der graue Himmel über dem Maidan fast symbolisch aus: Die Stimmung zwischen der EU und der ehemaligen Sowjetrepublik ist kurz vor dem EU-Ukraine-Gipfel am kommenden Montag (19. Dezember) frostig.
Dabei galt die Ukraine noch vor rund zwei Jahren als eine Art demokratisches Musterland unter den GUS-Staaten. Nach der Orangenen Revolution von 2004 fanden mehrere freie Wahlen statt, Presse- und Meinungsfreiheit war gegeben. Regierung und Bevölkerung wollten die Annäherung an Europa.
Doch der ukrainische Präsident Janukowitsch greift in seiner Außenpolitik auf Instrumente zurück, die seinem Vorvorgänger, Leonid Kutschma bereits zum Verhängnis wurden. Auch dieser hatte versucht mit einer so genannten Multi-Vektoren-Politik, vom Westen wie von Russland möglichst große Zugeständnisse zu bekommen, ohne sich fest an eine Seite zu binden. Nun hat die Ukraine offenbar beide Partner verärgert und steht im politischen Abseits: Russland winkt ab, die Ukraine mit billigem Gas zu alimentieren, sollte das Land sich weigern der von Moskau dominierten Zollunion beizutreten. „Russland fordert nicht nur 100 Prozent unseres Gastransportsystems, sondern auch das Ende der europäischen Integration“, sagt der politische Analyst Vladimir Fesenko, Direktor am Penta-Zentrum für politische Studien.
Gleichzeitig distanziert sich auch die EU: Auf dem EU-Ukraine-Gipfel war die Unterzeichnung eines erweiterten Assoziierungsabkommens vorgesehen, an dessen Ende sogar eine Mitgliedschaft stehen sollte. Doch den Vertrag wird es vorerst nicht geben.
Starke Zensur in den Medien, anhaltende Korruption und nicht zuletzt der Prozess gegen die Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, eine Ikone der Orangen Revolution, haben das Fass zum Überlaufen gebracht.
52 Prozent der Ukrainer sprechen sich heute für einen EU-Beitritt aus. Bei den unter 30-Jährigen sind es sogar 64 Prozent, ermittelte das Razumkow Zentrum in einer Umfrage im Oktober. Zu ihnen gehören auch Alina und Olga, beide Anfang 20. Gemeinsam sitzen sie in einem Kiewer Café. Alina mit kirschrot gefärbten Haaren und Olga in schwarzer Kleidung. „Dass das Abkommen nicht unterschrieben wird, ist keine große Überraschung, nach den Entwicklungen der letzten Monate. Wenn eine Seite die nötigen Forderungen nicht erfüllt, kommt es eben zu keinem Ergebnis“, meint Olga lakonisch. Die jungen Frauen binden ihre Pläne und Hoffnungen an die EU. „Ich finde es wichtig, dass unsere Uni Kontakte ins Ausland hält, das ist in der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken“, sagt Olga. Sie promoviert in Germanistik und möchte später als Wissenschaftlerin arbeiten.
Wie viele Ukrainer beobachten Olga und Alina die derzeitige Entwicklung mit Sorge. Denn auch innenpolitisch verliert der amtierende Präsident Janukowitsch immer mehr an Rückhalt. Einer Umfrage des Razumkow-Zentrums zufolge liegen die Zustimmungswerte für den Präsidenten bei knapp 20 Prozent – der bisher niedrigste Wert in 20 Jahren Unabhängigkeit. Als Gründe werden die Stagnation im wirtschaftlichen Bereich, die Kostenexplosion für Nahrungsmittel, Energie und kommunale Leistungen sowie der demokratieferne Kurs der Regierung genannt.
Die beiden Freundinnen sehen derzeit wenig Perspektiven für sich. Doch Auswandern kommt für Olga nicht in Frage: „Man soll in seinem eigenen Land leben und arbeiten“, sagt sie und streicht ihre langen Haare aus dem Gesicht. Alina sieht das anders: „Wenn es hier so wird wie in Belarus, dann fliehe ich“. Die junge Frau spricht vier Sprachen fließend, ihr Deutsch ist akzentfrei.
70 Prozent aller Ukrainer geben an, sie seien unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation, schreibt die ukrainische Tageszeitung „Segodna“. 50 Prozent der unter 35-Jährigen sagen, sie seien bereit an Demonstrationen teilzunehmen. Doch noch halten die Ukrainer still. Alina ist nachdenklich: „Viele Leute leben noch immer nach sowjetischen Normen. Wenn die Regierung droht, dann ziehen sie sich wie Schnecken in ihre eigenen vier Wände zurück“.