Ukraine

Neue Helden für die Ukraine

Politik hat Geschichte gemacht – und Geschichte, das ist Politik in der Ukraine der Gegenwart. Für deren innenpolitisch schwer angeschlagenen Präsidenten Viktor Juschtschenko war es ein klarer und durchaus wichtiger Sieg, als sich das EU-Parlament in dieser Woche mit der ukrainischen Geschichte beschäftigte. Gegenstand der Debatte: die Hungersnot der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, der zwischen drei und 10 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Das Ergebnis der Sitzung: eine Resolution, in der die Vorkommnisse von damals als „Verbrechen gegen das ukrainische Volk und gegen die Menschlichkeit“ verurteilt werden.

Klingt nach Schulunterricht, birgt aber ganz aktuelle politische Brisanz. Denn dass die Hungersnot, der so genannte Golodomor, überhaupt besprochen wird, liegt an der orangefarbenen Revolution in der Ukraine vor vier Jahren. Was damals im Windschatten des Machtwechsels und der Abkehr von Russland Einzug gehalten hatte, war ein ganz neues Geschichtsbewusstsein. Und das war durchaus im Sinne der Architekten der Wende: Die Analen des Landes sollten umgeschrieben, die verschachtelte Geschichte von ganz anderer Seite neu beleuchtet werden. Neue Helden braucht das Land, raus mit der verstaubten Sowjet-Geschichtsschreibung, so das Credo.

Da war etwa der Aufstand der UPA, der Ukrainischen Widerstandsarmee, die bis in die 50er Jahre in der Westukraine einen Guerillakrieg gegen die Sowjets gekämpft hatte. Ihre Veteranen, zuvor als Nationalisten und Nazi-Kollaborateure verrufen, waren plötzlich ganz offiziell Helden der Nation. Und dann war da eben die große Hungersnot. Ein Trauma, über das zuvor besser nicht geredet wurde – weil sich dann zwangsläufig auch die Frage nach den Schuldigen gestellt hätte. Der neuen Führung der Ukraine war kam das durchaus gelegen. Und so war und ist ihr der Golodomor vor allem eines: ein von Moskau geplanter Genozid. Und als solcher sollte er international auch anerkannt werden. Zugleich ist die Hungersnot aber auch ein sehr willkommenes Druckmittel gegen Russland, wenn auch ein kleines.

Zwischen drei und 10 Millionen Menschen waren dem Golodomor zum Opfer Gefallen – je nachdem, ob russische oder ukrainische Quellen herangezogen werden. Russland spricht von einer unglücklichen Verkettung von Ereignissen im Zuge der Zwangskollektivierung unter Stalin, die Auswirkungen überall auf dem Gebiet der Sowjetunion gehabt hätte. Die Ukraine dagegen spricht von einer geplanten, fein säuberlich im Stile des Holocaust durchgeführten Aktion, um die rebellischen ukrainischen Dörfer unter Kontrolle zu bringen.

Die Sache hat jedenfalls höchste Priorität für die Ukraine. So hoch, dass sich der noch vor vier Jahren als „Staatssicherheit“ agierende ukrainische Geheimdienst SBU heute mit Geschichtsaufarbeitung beschäftigt. In einem Informationszentrum des SBU in Kiew kann man sich über die Ukrainische Widerstandsarmee, die große Hungersnot und dergleichen informieren. Die Archive über den Golodomor wurden erst kürzlich göffnet. Schon zuvor hatte Präsident Juschtschenko bei Staatsbesuchen das Thema zum fixen Gesprächspunkt gemacht. Vor der UNO wollte die Ukraine eine Verurteilung durchboxen, scheiterte jedoch. Vor der OSZE wurde das Anliegen vorgetragen. Immerhin gab es von dieser Seite eine Empfehlung an die Parlamente der Mitgliedsstaaten, sich mit dem Thema zu befassen. Und jetzt trug das Lobbying offenbar auf EU-Ebene Früchte.

Nur im eigenen Land, da hapert es. Denn Aufarbeitung der Geschichte – und auch der Hungersnot – ist in der Ukraine unter Juschtschenko, ebenso wie unter seinem Vorgänger Kuchma, vor allem eine politische Frage. Und erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, eine akademische. Die Geschichte wird zum Fundus von Helden, aus denen man jene auswählen kann, die genehm die eigene Position untermauern. Es sind aber auch genau jene Helden, die nicht überall im Land Anklang finden – und auf diesem Weg eine Spaltung der Gesellschaft provozieren.


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