„Nie wieder Grenzland”
„Am 27. Januar 45 sind wir hier weg, meine Mutter, meine Großeltern und ich“. Helga Beblowska ist schon beim Thema, da haben die Gäste aus Deutschland noch nicht einmal Platz genommen in ihrer kleinen Stube im polnischen Dorf Korsze. „Zu Fuß kamen wir nicht weit“, erzählt sie und klappert mit dem Geschirr, „die Züge waren alle verstopft. Der Russe hatte Ostpreußen ja eingekesselt. Wir blieben bei einem Bauern und kamen im Mai hierher zurück“.
Unvermittelt wendet sich die 76-Jährige an ihre Gäste: „Nehmt ihr Kekse?“ Die Wentlands aus Sachsen-Anhalt sind heimlich nach Polen gefahren, weil sie wissen wollten, woher ihre Vorfahren stammen. Ihrem Vater, der hier noch groß geworden ist, haben sie nichts gesagt, sie wollten ihn überraschen. Hilflos sind sie durch das fremde Land geirrt und haben sich zu Helga durchgefragt. Und anstatt das frühere Haus zu finden, haben sie eine unerwartete Geschichte gehört. Denn anders als Großvater Wentland und mit ihm der Großteil der deutschen Bevölkerung, der Ostpreußen 1945 verlassen musste, wurde Helga nach dem Krieg von den polnischen Behörden in Masuren festgehalten. Jetzt ist sie eine der letzten Deutschen in der Gegend.
Korsze, auf deutsch Korschen, liegt in Nordostpolen in der Woiwodschaft Ermland-Masuren und gehört zu den „postdeutschen“ Gebieten, wie die Polen sie nennen. Früher war Korschen einmal der Eisenbahnknotenpunkt Ostpreußens und zu fast hundert Prozent deutsch. Hier stieg man ein oder um nach Berlin, Königsberg, Tilsit und Allenstein. Überwiegend lebten hier Eisenbahnbeamte. Auch Helgas Vater war bei der Bahn.
1945 ändert sich alles. Ostpreußen wird geteilt, der nördliche Teil kommt zur Sowjetunion, der südliche zu Polen. Korschen liegt nun im toten Winkel, kurz vor der russisch-polnischen Grenze zum Kaliningrader Gebiet. Die deutschen Bewohner müssen, wenn sie nicht schon geflüchtet sind, ihre Sachen packen und verschwinden. Neue Siedler treffen aus allen Teilen Polens ein, vor allem polnische Vertriebene aus Litauen und der Ukraine. So haben es die Siegermächte in Jalta beschlossen.
„Nach den Russen kamen die Polen“, fährt Helga fort. „Wir haben uns um die Ausfahrt bemüht. „Die ersten Züge fuhren 1946. Auch von Korschen ging ein Transport. Aber statt nach Deutschland haben sie uns hier in der Nähe auf die Güter zur Arbeit verschleppt.“ Die alte Frau seufzt. „Sonst wären wir in Deutschland gewesen. Alle wussten, wo der Zug hinfährt, nur wir wussten es nicht.“
Helga Beblowska war damals 14 Jahre alt und hieß mit Nachnamen Näth. Seitdem folgt ihr Lebensweg nicht mehr den dicken Pfeilen, die auf der europäischen Landkarte in den Geschichtsbüchern die Ströme der Zwangsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg aufzeichnen. Stundenlang brauchte ihr Zug 1946 ins nur 30 Kilometer entfernte Lötzen. ‚Die wollen uns in die masurischen Seen werfen’ flüsterten sich die Leute im Waggon zu. Auf den Gütern erwartete sie ein Leben in geplünderten und verwaisten Häusern und Feldarbeit, man lebte vom Nötigsten. Helga arbeitete sich von der Kuhhirtin zur Büroangestellten hoch.
Aber bleiben wollte sie nicht. „Ostpreußen war ein Land, das von keinem Krieg verschont wurde“, sagt sie. „Wenn nicht die Litauer, kamen die Russen, dann die Schweden. Immer habe ich mir gesagt: Nie mehr im Grenzland wohnen.“ Wer mit den umkämpften Grenzen der Zwischenkriegszeit aufgewachsen ist wie sie, bei dem sitzt die Angst vor dem Krieg tief. Auch jetzt sind es nur 20 Kilometer von ihrem Haus bis zur russischen Grenze.
In Korsze wohnt Helga am Sportplatz. Die meisten Leute in dem etwa 4.500 Einwohner zählenden Ort scheinen das zu wissen. Wenn hier Deutsche auftauchen, schickt man sie zu Helga. Korsze liegt abseits des touristischen masurischen Seengebietes, deswegen verirren sich meist nur Spurensucher und Familienforscher hierher. Wie Wentlands suchen sie das Haus ihrer Eltern oder Großeltern und irren dabei hilflos durch das fremde Land. Helga Beblowksa freut sich über solche Besuche. Oft schon ging sie mit ihnen, um zu übersetzen, damit die polnischen Bewohner nicht etwa denken, die Deutschen wollten ihr Haus zurückhaben.
Helga ist nicht „postdeutsch“, sie ist eine Deutsche. Auch nach über fünfzig Jahren Leben in Polen. Oder gerade deswegen? „Unser Land Ostpreußen“ sagt sie ein wenig geheimnisvoll – aber nur zu den deutschen Gästen. Sie schaut gern Dokumentationen über Ostpreußen, die im deutschen Fernsehen laufen. Sie mag die Romane von Ernst Wichert, einem der Autoren, die Ostpreußen zu einem literarischen Mythos machten.
Doch auch polnisch spricht die Masurin elegant und fließend. Sie war mit einem Polen verheiratet, der inzwischen verstorben ist. „Denn unsere Männer – ja, wo waren unsere Männer?“, fragt sie lakonisch. Dabei wäre ihr Mann sogar mitgekommen in die Bundesrepublik. Noch während der Arbeit auf den Lötzener Gütern stellte Helga in den fünfziger Jahren einen Ausreiseantrag – ohne Chance auf Bewilligung. Es liege keine direkte Familienzusammenführung vor, so der amtliche Grund. Jahr für Jahr reichte sie den Antrag ein – vergeblich. Über 15 Jahre ging das so, ein Leben im Provisorium, den Traum vom Leben im Westen immer vor Augen. Helga hoffte, in Deutschland eine Ausbildung machen zu können.
Irgendwann hörte sie auf, Anträge einzureichen. Sie erinnert sich kaum an das Jahr. Wenigstens war es ihr inzwischen gelungen, das alte Haus der Eltern, in dem sie jetzt noch mit ihrem jüngsten Sohn wohnt, zurückzubekommen. Es war vom Staat nicht – wie sonst mit Häusern aus deutschem Privatbesitz üblich – an Neusiedler verkauft worden, weil man wusste, dass die Näths noch im Land waren. Ihre Rückkehr bescherte ihnen dennoch zunächst kaum Freunde. Jemand schmierte ein Hakenkreuz an das Hoftor vor dem Haus, nachdem Helga und ihr polnischer Mann eingezogen waren.
Helga Beblowska trennt bis heute klar zwischen „den Polen“ und sich als „der Deutschen“. Durch Fleiß und Anpassung errang sie sich zwar ein halbwegs normales Leben. Sie ließ ihre Kinder katholisch taufen, wie es sich in Polen gehört und vermied es, ihnen deutsch beizubringen, damit sie in der Schule nicht gehänselt würden. Aber ihr Akzent und ihr Name verrietem sie – der Name Helga ist für die Polen so typisch deutsch, wie Kowalski für die Deutschen polnisch ist.
Inzwischen durfte Helga längst in die Bundesrepublik reisen, wo sie Kontakt zu einigen Verwandten pflegt. Der westliche Wohlstand hat sie überwältigt: „Wenn man das so sieht, ist man krank. Ich stand bloß da und hab geheult“, erinnert sie sich. Heimatgefühle in Deutschland? Fehlanzeige „Nach ein paar Tagen hatte ich immer genug. Da wollte ich lieber nach Hause.“
Zuhause in Polen ist die deutsche, oft multiethnische Vergangenheit schon lange nicht mehr tabu, ob in Masuren, Schlesien oder Pommern. Gerade auf lokaler Ebene wird sie neugierig entdeckt und werden darüber Kontakte nach Deutschland geknüpft. Man stellt Gedenksteine auf, sichert Spuren und renoviert Kirchen. Seit den neunziger Jahren sammeln sich die letzten Deutschen in Vereinen der deutschen Minderheit. Dort wird „plachandert“, wie Helga es nennt, mal auf deutsch, mal auf polnisch.
Die jungen Leute, klagt Helga Beblowska, interessierten sich heute wenig für die Vergangenheit. Doch als vor einiger Zeit eine polnische Journalistin über ihr Schicksal schreiben wollte, lehnte sie ab: „Nein, so in der Öffentlichkeit, das wollte ich nicht.“ Nur für die Enkel hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben. „Meine Enkel denken, hier war schon immer Polen, die können sich das alles nicht vorstellen“, sagt sie. „Aber vielleicht werden sie später einmal danach fragen.“
Betretenes Schweigen erfüllt die Stube. Familie Wentland sitzt konzentriert auf dem Sofa, als Helga ihre Geschichte beendet hat. „Na, soll ich Euch Eier braten?“ fällt die Ostpreussin plötzlich in die Stille ein und kichert. Verbittert hätten sie ihre Erfahrungen nach dem Krieg nicht. Aber ihre Geschichte erzählt Helga Beblowska doch lieber fremden Besuchern aus Deutschland als ihren polnischen Nachbarn.