Polen

AUFBRUCH AUS EINER BLEIERNEN ZEIT

Vor 30 Jahren wurde Karol Wojtyla zum Papst gewählt

(n-ost) – Am Abend des 16. Oktober 1978 trat Kardinalsprotodiakon Pericle Felici auf die Mittelloggia des Petersdoms, um das zweite Mal innerhalb von 52 Tagen der Welt einen neuen Papst bekanntzugeben. Würdevoll sprach der 67-jährige Italiener auf Lateinisch die zeremoniellen Worte: „Ich verkünde Euch große Freude: Wir haben einen Papst! Den herausragendsten und hochwürdigsten Herrn, Herrn Karol,“ – Felici stockte kurz, um noch einmal auf den Zettel mit dem merkwürdigen Name zu schauen – „der Heiligen Römischen Kirche Kardinal Wojtyla, welcher sich den Namen Johannes Paul II. gegeben hat.“ Die Menge auf dem Petersplatz jubelte, obwohl nur wenige unter ihnen den Namen kannten. „Ist es ein Schwarzer? Ein Asiate?“, wurde Jerzy Turowicz, Herausgeber der katholischen „Allgemeinen Wochenzeitung“ aus Krakau von seinen Nebenleuten aufgeregt gefragt. Kurz darauf trat Wojtyla auf die Loggia und kommentierte die Entscheidung der Kardinäle für den neuen Papst: „Sie haben ihn aus einem fernen Land geholt.“ Das erste Mal seit mehr als 450 Jahren stand nun kein Italiener an der Spitze der katholischen Kirche. Der charismatische 58-jährige Pole, der soviel jünger und medial gewandter als seine Vorgänger war, sollte aber nicht nur die katholische Kirche ins 3. Jahrtausend führen, sondern mit seinen Visionen auch die politische Weltordnung bewegen. Die Wahl des Papstes aus „einem fernen Land“ hinter dem Eisernen Vorhang leitete den Anfang vom Ende des Ostblocks ein.„Ein Pole Papst?“ Wladyslawa Jablonska konnte nicht glauben, was ihre Tochter Teresa Piekarz aus der DDR berichtete. Die 34-jährige Pharmazeutin war gerade bei ihrem Mann, einem polnischen Vertragsingenieur beim VEB Chemiekombinat in Bitterfeld, zu Besuch, als sie aus dem westdeutschen Fernsehen erfuhr, was ihrem Kardinal Karol Wojtyla widerfahren war. Sofort rief Teresa Piekarz ihre Mutter in Krakau an und überraschte sie mit der Nachricht – die polnischen Staatsmedien verschwiegen die Sensation stundenlang.Die Wahl Wojtylas war für die Regierenden in Warschau ein Schock. Eilig versammelte sich das Politbüro der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei. Wie sollte es die Nachricht vermitteln, dass ein Bürger der Volksrepublik, ein ehemaliger Arbeiter zumal, nunmehr Oberhaupt der katholischen Kirche war? Während in der Warschauer Parteizentrale an der offiziellen Verlautbarung gefeilt wurde, verbreitete sich die Nachricht durch Mundpropaganda bereits im ganzen Land. Von Posen bis Lublin, von Danzig bis Krakau läuteten am Abend des 16. Oktober die Kirchenglocken. Hunderttausende strömten zu den eilig anberaumten Messen und schmückten die Kirchen mit den Bildern des neuen Papstes. In der Kathedrale auf dem Wawel, dem Krakauer Schlossberg und Heiligtum der polnischen Nation, erklang die mächtige Sigismundglocke, die nur an den höchsten Feiertagen zu hören ist.Ein Slawe auf dem Thron Petri – das hatte der polnische Dichter Juliusz Slowacki bereits im 19. Jahrhundert prophezeit. Dabei entsprang die Wahl Wojtylas als Nachfolger des nur 33 Tage amtierenden Johannes Paul I. einer Verlegenheit. Im Konklave blockierten sich die Kardinäle Giuseppe Siri, ein konservativer Hardliner aus Genua, und Giovanni Benelli, ein Reformer im Geiste des II. Vatikanischen Konzils aus Florenz, gegenseitig so lange, bis der Weg für den Außenseiter frei wurde. Der Strippenzieher für die Wahl war Wiener Kardinal Franz König, der seine einflussreichen deutschen Amtsbrüder früh auf den Kandidaten aus Krakau einschwor. So machten ausgerechnet Deutsche einen ehemaligen Schauspieler und Gelegenheitsdichter aus Polen zum Papst.An eine solche Ironie der Geschichte glaubte man in Moskau nicht. Die Gerontokraten um Leonid Breschnew, den Generalsekretär der Stagnation, witterten vielmehr eine antisowjetische Verschwörung der CIA. Der KGB-Chef Juri Andropow warnte: Der Papst aus dem kommunistischen Staat werde die sorgfältig gepflegte Entspannungspolitik aus dem Gleichgewicht bringen und die Menschen in den Volksrepubliken gegen ihre Herrscher aufwiegeln. Wie berechtigt die Furcht der alten Männer aus dem Kreml vor dem neuen Papst war, zeigte er bei dessen Amtseinführung. „Fürchtete Euch nicht!“, rief Wojtyla, der die Schrecken der nationalsozialistischen und stalinistischen Diktatur selbst erlebt hatte, vom Petersplatz aus den Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zu.Mit dem Status quo der europäischen Nachkriegsordnung wollte sich Johannes Paul II. nicht abfinden. Die Entspannungspolitik hatte sich Ende der 70-er Jahre erschöpft. Statt die feindlichen Blöcke einander näherzubringen, konservierte sie bloß die Teilung des Kontinents – sehr zur Freude der Apparatschiks von Ost-Berlin bis Moskau. Ein machtvolles Zeichen des Aufbruchs aus der bleiernen Zeit setzte Johannes Paul II. mit dem Besuch in seiner Heimat. Die Pilgerfahrt im Juni 1979 wurde zum spirituellen Erweckungserlebnis, das die politischen Verhältnisse zum Tanzen brachte. Es war zugleich eine sichtbare Niederlage des kommunistischen Herrschaftsanspruchs im katholischen Polen. Millionen Polen jubelten ihrem Landsmann während seiner neuntägigen Reise zu. In Warschau beschwor Johannes Paul II. auf dem Siegesplatz am Pfingstsamstag den Heiligen Geist zur Erneuerung der Erde. Dort, wo sonst die Kommunisten ihre Macht inszenierten, thronte nun ein riesiges Kreuz. Und die Menge skandierte: „Wir wollen Gott!“ In Gnesen, dem ältesten Bistum und erster Hauptstadt Polens, erinnerte Johannes Paul II. an die Einheit des christlichen Europas. In Tschenstochau, dem Wallfahrtsort der Schwarzen Madonna, forderte er Religionsfreiheit für die Menschen in Osteuropa. In Auschwitz, dem „Golgatha unserer Zeit“, gedachte er der Opfer der nationalsozialistischen Völkermorde. Höhepunkt der Pilgerreise aber war der abschließende Besuch in seiner Heimatstadt Krakau. Hunderttausende begrüßten ihren Papst auf dem Weg vom Flughafen zur Stadt. An der Straße, die nach einem sowjetischen Marschall benannt war, stand auch Teresa Piekarz mit ihrer Familie. Als Studentin hatte sie die Predigten des Erzbischofs Wojtyla in der Sankt-Anna-Kirche in der Altstadt besucht. „Viele junge Leute kamen, wenn Wojtyla sprach“, erinnert sich Teresa Piekarz. „Er war ein guter Redner, der die Menschen bewegte.“ Und er bewegte sie auch bei seiner Rückkehr nach Krakau. Weit mehr als eine Million strömten zum Abschlussgottesdienst auf die Festwiese am Stadtrand. Die zahlreich geladenen Kardinäle – unter ihnen auch Joseph Ratzinger – waren beeindruckt davon, wie ihr Oberhirte die Masse mobilisierte. Vor seinem Abschied rief er seinen Landsleuten erneut zu: „Fürchtet Euch nicht!“ Der Ruf wurde gehört: Knapp ein Jahr später trotzen Arbeiter auf der Danziger Leninwerft dem kommunistischen Regime die Gründung einer freien Gewerkschaft ab. Das Abkommen zwischen der Staatsmacht und der Solidarnosc unterzeichnete der Elektriker Lech Walesa mit einem riesigen Kugelschreiber, der das Konterfei von Johannes Paul II. trug.
ENDE


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