Usbekistan

Der Sänger vom Aralsee

Gebückt ziehen die Erntehelfer von Bauer Anwer übers Feld. Mit schnellem Griff zupfen alte Frauen, Studenten und Kinder die weißen Baumwollbäusche von den Sträuchern und sammeln sie in ihre Schürzen. Die Sträucher stehen in diesem Jahr nur knapp 30 Zentimeter hoch – ein Drittel der normalen Größe. Sie sind dürr, der Boden zwischen den Reihen ist ausgedorrt. „An eine Dürre, wie wir sie in diesem Jahr haben, kann ich mich nicht erinnern“, sagt Anwer. „Nur einmal konnte ich die Baumwolle in diesem Jahr mit Wasser versorgen.“ Üblich seien wenigstens drei Bewässerungsdurchgänge. 


Die Erntehelfer von Anwer. / Leo Schwarzkopf, n-ost

Anwer, knapp 60 Jahre alt, ist ein kleiner, schmaler Mann mit braungebranntem Gesicht und mehr Zahnlücken als Zähnen im Mund. Er lebt in der Provinz Khorezm, im äußersten Westen Usbekistans, kurz vor der Grenze zu Turkmenistan. „Da drüben beginnt die Wüste“, sagt er und weist in Richtung Grenze. Die Wüste, das ist für Anwer ein Ort, an dem es noch weniger Wasser gibt als in Qöshköpir, seinem Heimatdorf. Es klingt, als ob Khorezm reich an Wasser wäre.

Doch tatsächlich lebt Anwer in einer der trockensten Regionen Usbekistans, die noch von Menschen bewohnt wird.  Die Provinz liegt nahezu am Ende der Wasserverteilungskette in Usbekistan. Der Amudarja, einer der beiden Zuflüsse des Aralsees, ist die Lebensader dieser Region. In diesem Jahr ist er jedoch nicht mehr als ein Rinnsal in einem viel zu großen, nahezu ausgetrockneten Flussbett. Doch vom Fluss zweigen auch noch die Bewässerungskanäle ab, mit denen die Bauern ihre Felder bewässern. Mit kleinen Dieselpumpen saugen sie den letzten schlammigen Tropfen Wasser aus den Kanälen.Rund 80 Prozent der Menschen in Khorezm leben von der Landwirtschaft, hauptsächlich von Baumwolle. Die ist das wichtigste Exportgut Usbekistans, das sonst nicht viel zu bieten hat für den Weltmarkt. Rund 20 Prozent des Bruttosozialprodukts und seiner Devisen erwirtschaftet das Land mit dem „weißen Gold“. 25 Tonnen Baumwolle pro Jahr muss Anwer dem Staat liefern, das sieht sein Pachtvertrag über die gut zehn Hektar Land vor. Doch es wird in diesem Jahr wohl nicht einmal die Hälfte werden. Im schlimmsten Fall wird Anwers Pachtvertrag gekündigt, die Lebensgrundlage der Familie.


Ausgetrockneter See bei Qöshköpir. / Leo Schwarzkopf, n-ost

Nicht nur der Aralsee trocknet wegen massiver Bewässerung der Felder immer weiter aus. Auch andere Seen und Flüsse in Usbekistan werden immer kleiner.

Die usbekische Regierung unternimmt nichts dagegen. Keine Finanzhilfen, keine Senkung der Norm. Stattdessen übt der Staat Druck auf seine Baumwollbauern aus. Die Ernte gehört dem Staat, einen freien Markt mit fairen Preisen gibt es nicht. Die staatlichen Betriebe nehmen Anwer die Baumwolle zu Festpreisen ab. Etwa 80 Sum bekommt er pro Kilogramm, knapp vier Cent. Davon muss er all seine Ausgaben und die Erntehelfer bezahlen. Betriebswirtschaftlich zu rechnen haben er und die anderen Bauern nie gelernt. Wie sie die Ernteauflagen erfüllen, ist ganz allein ihnen überlassen.

Auch Anwer, früher in der Sowjetkolchose Bewässerungstechniker, muss sich nun selbst mit der Maschinenstation von Qöshköpir auseinandersetzen, wenn er einen der meist kaputten Traktoren braucht, um das Feld zu bestellen. Und vom örtlichen Verband der Wassernutzer bekommt er zugeteilt, wie viele Liter seinen Feldern zustehen, um die Baumwolle zu bewässern. Trotz der staatlichen Normen und Vorgaben ist die Landwirtschaft in privater Hand. Nach der Unabhängigkeit Usbekistans, das bis zum Jahr 1991 zur Sowjetunion gehörte, wurden die Kolchosen aufgelöst und zunächst zu eigenständigen Genossenschaften umstrukturiert. Als das nicht funktionierte, begann die nahezu komplette Privatisierung in der Landwirtschaft. Ein Großteil des Landes wurde verpachtet, das Risiko trug von nun an jeder Bauer allein.


Anwer singt Lieder über die Heimat. / Leo Schwarzkopf, n-ost

Einen kleinen Teil des Pachtlandes darf jeder Bauer für den eigenen Bedarf nutzen. Das hat auch Anwer in diesem Jahr getan – und er ist ein Risiko eingegangen: Reis bringt doppelt so viel ein wie Baumwolle. Deshalb hat Anwer auf knapp einem halben Hektar Reis angebaut. Doch der Reis braucht viel Wasser, Wasser, das es  in Qöshköpir nicht gibt. Schon vor der Erntezeit muss Anwer zugeben: „Die Reisernte ist nichts geworden, alles verdorrt.“ Er nimmt es gelassen. „Gott wird dafür sorgen, dass es im nächsten Jahr wieder mehr Wasser gibt.“


Die Rubob ist eine kleine, bauchige Gitarre, die mit zwölf Saiten
und Tierhaut bespannt ist. / Leo Schwarzkopf, n-ost

Etwas anderes als die Hoffnung bleibt Anwer und den anderen Bauern kaum. Aus Angst vor der autoritären Staatsmacht in Taschkent reden sie Fremden gegenüber nicht offen über ihre Lebenssituation. „Keine Namen in der Zeitung“, das war die Bedingung, die Anwer stellte, als er über sich zu erzählen begann. Deshalb ist Anwer auch nicht sein richtiger Name. Doch von Angst sprechen die Einheimischen nicht, sie nennen es lieber „Vorsicht“. Besonders in diesem Dürrejahr, besonders wenn es um Wasser geht. Anwer verrät, dass der Geheimdienst bald wieder bei ihm vorbeischauen wird. Wasser ist ein Staatsgeheimnis in Usbekistan. Wäre es keines, so wüsste Anwer vielleicht, warum die Distanz seiner Heimat Khorezm zum Aralsee immer größer wird.


Das Lied vom Aralsee

Seit ewigen Zeiten ist er als Aral bekannt
Freunde, der Aral erwartet unsere Hilfe
Er gibt kein Wasser mehr, es fließt davon
Freunde, der Aral wartet auf unsere Hilfe
„Hilfe, Hilfe", ruft er. Er ruft uns, „Hilfe, Hilfe!“Wir haben es nicht bemerkt, als Tage, Nächte vergingen.
Wir haben es nicht bemerkt, als Monate, Jahre vergingen.
Plötzlich wurden wir es gewahr, der Aral verschwindet.
Freunde, der Aral wartet auf unsere Hilfe, es gibt kein Wasser mehr, es fließt davon.
„Hilfe, Hilfe“, ruft er. Er ruft uns, „Hilfe, Hilfe!“Wenn wir den Aral nicht retten,
wird es zu spät sein, die Zeit vergeht
Eines Tages wird die Natur Rache nehmen
Freunde, der Aral wartet auf unsere Hilfe, es gibt kein Wasser mehr, es fließt davon.
„Hilfe, Hilfe“, ruft er. Er ruft uns, „Hilfe, Hilfe!“



Der Aralsee gilt als eine der größten von Menschen gemachten Umweltkatastrophe der Welt. Das südliche Ufer in Usbekistan weicht immer weiter nach Norden zurück. Vor zwanzig Jahren hat Anwer das „Aral-Meer“, wie man in Usbekistan den See nennt, das letzte Mal gesehen. „Man hat Bäume an die Ufer gepflanzt und verhindert so das Austrocknen“, sagt er. Er ist fest davon überzeugt, dass dieses Gerücht, das die Menschen in seinem Dorf hoffen lässt, stimmt. Wie sollte er auch anders, er, der einst zusammen mit seinen zwei Söhnen und vier Töchtern als singender Familienclan durch Khorezm zog und Lieder zur Ehre der Heimat sang. Damals war Anwer berühmt in der Gegend, spielte auf Hochzeiten oder am Tag der Sowjetarmee.

„Es gab einen Wettbewerb, bei denen die Leute über den Aralsee singen sollten“, erinnert er sich. Anwer komponiert seit seiner Kindheit. Für den Wettbewerb schrieb auch er ein Lied – und gewann. Noch heute nimmt Anwer gerne seine Rubob zur Hand, eine kleine, bauchige Gitarre, die mit zwölf Saiten und Tierhaut bespannt ist. Und wenn er singt, mit kräftiger, klagender Stimme, wird klar, was der See den Menschen bedeutet: „Wir wissen es lange, Freunde, der Aral wartet auf unsere Hilfe, er hat kein Wasser mehr, es fließt davon. ‚Hilfe, Hilfe“,’ ruft er. Er ruft uns ‚Hilfe, Hilfe!’“


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