Türkei

Cartoons über die Schwächen der Mächtigen

Mehmet Çağçağ sitzt mit einer kleinen Gruppe von Redakteuren an einem Tisch in der Redaktion der Satirezeitschrift „LeMan“. Der Zeichner skizziert Ministerpräsident Tayyip Erdoğan als Muppet-Show-Figur in einer Talkshow des regierungsnahen Fernsehsenders Kanal 7 – eine Anspielung auf einen aktuellen Spendengeldskandal. Der in Deutschland angesiedelte Verein „Deniz Feneri“ (Leuchturm) soll gesammelte Gelder in Millonenhöhe in Erdoğan-nahe-Medienkanäle geleitet haben. Doch die Zeichnung gefällt der Runde nicht. Mit gerunzelter Stirn zerknüllt Çağçağ die in Windeseile entstandene, hervorragende Zeichnung. „Wir versuchen vor allem auf der Titelseite immer tagesaktuell und provokativ zu sein“, erklärt Çağçağ, „aber momentan sind die politischen Fronten so deutlich, dass eine solche Zeichnung zu platt ist“. Der türkische Ministerpräsident ist ein bevorzugtes Motiv der Satire. Sein autoritäres Auftreten, die Maßanzüge und dunklen Sonnenbrillen neben der konservativ verhüllten Ehefrau Emine Erdoğan reizen die Zeichner immer wieder zu beißendem Spott. Gleichzeitig ist der Regierungschef für seine Humorlosigkeit bekannt. Er verklagte zahlreiche Karikaturisten, die ihn als Tier zeichneten.


Die Satirezeitschrift „Penguen“ hat am 24. Februar 2005 mit dem Titelbild, „der Tayyıp-Zoo“, die Empfindlichkeit von Erdogan auf die Schippe genommen. Karikaturen zur Verfügung gestellt von Sabine Küper-Büsch

Der in Istanbul lebende britische Karikaturist Michael Dickinson wurde erst am 26. September 2008 von einer Klage mit der Forderung nach zwei Jahren Haftstrafe freigesprochen. Dickinson saß 2006 für zehn Tage in türkischer Untersuchungshaft, weil eine Collage von ihm in der Times erschienen war, auf der George W. Bush Tayyip Erdoğan in Hundegestalt ein Halsband umlegt. Die Satirezeitschrift „Penguen“ hatte bereits am 24. Februar 2005 mit dem Titelbild, „der Tayyıp-Zoo“, die Empfindlichkeit des frommen Regierungschefs auf die Schippe genommen. Die Zeichner solidarisierten sich mit dem wegen einer Erdoğan-Katzen-Karikatur zu einer Geldstrafe verurteilten Zeichner Musa Kart. Die Klage des Ministerpräsidenten gegen Penguen wurde abgewiesen.In der türkischen Geschichte gibt es prominente Vorbilder humorloser Staatsoberhäupter, die bis heute Anlass für respektloses Gelächter bieten. Bei der Entstehung des Genres Zeichnerische Satire im Osmanischen Reich stand Abdülhamid II. (1842-1918) im Zentrum des oppositionellen publizistischen Interesses. Abdülhamid II. war der Sultan, der mit dem deutschen Kaiser Willhelm enge Beziehungen pflegte, die schließlich zu einem Bündnis im Ersten Weltkrieg führten. In den Zeiten der Einführung von Verfassungen im Europa des neunzehnten Jahrhunderts vereinte das Lachen über die schwindende Macht der Herrschenden die oppositionellen Intellektuellen Europas und der Türkei. Der nach einer politischen Reformphase dreiunddreißig Jahre lang autoritär herrschende Sultan Abdülhamid II. empfand neben Kritik an seiner absolutistischen Herrschaft Anspielungen auf seine Gurkennase als infame Majestätsbeleidigung. Neben den Begriffen Freiheit, Unabhängigkeit und Brüderlichkeit wurde auch das Wort Nase durch die Zensur verboten. Es folgte eine Inflation von Nasen-Karikaturen. Die osmanischen Zeichner standen mit unübertroffenen Variationen des Spottes auf den Herrscher an der Spitze der publizistischen Emanzipationsbewegung. Die Nase des Sultans wurde zu einem Symbol für die Schwäche des autoritären osmanischen Systems und die Zeichenfeder die wirksamste Waffe der osmanischen Opposition.


Eine Karikatur auf den Sultan Abülhamid II. Die Nase des Sultans wurde zu einem Symbol für die Schwäche des autoritären osmanischen Systems.

Die zentrale Rolle der Satire innerhalb des bürgerlichen Emanzipationsprozesses im Osmanischen Reich ließ die Karikaturisten immer wieder die federführenden Kritiker der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in politischen Umbruchzeiten sein. In der Zeit der nach dem Militärputsch vom 12. März 1971 eingesetzten parteilosen Übergangsregierungen erscheint zum ersten Mal die legendäre Satirezeitschrift „Gırgır“ (Spaß). „Gırgır“ erreicht Rekordauflagen von bis zu einer halben Millionen, mehr als die großen Tageszeitungen. „Gırgır“-Chefredakteur Oğuz Aral fühlt sich von der Volkskultur, der Gossensprache und dem Alltagsleben der Unter- und Mittelschichten angezogen und bemüht sich in seinen Zeichnungen um eine in ihrer Schlichtheit allgemein verständliche Linie. Aral öffnet jungen Zeichnern Tür und Tor und bildet sie aus. Eine Fülle lokaler Comic-Figuren entsteht. Viele der heute bei den federführenden Zeitschriften LeMan und Penguen arbeitenden Zeichner stammen aus der „Gırgır“-Schule.

Auch Ramize Erer gehört dazu. Als Studentin an der Istanbuler Kunsthochschule Mimar Sinan mischte Erer sich jeden Montag kurz vor Redaktionsschluss unter die etwa vierzig Nachwuchszeichner, um Chefredakteur Oğuz Aral ihre Zeichnungen zu präsentieren. Es wurden nur immer einige wenige auf der Seite für Amateur-Zeichner publiziert. Die siebzehnjährige Ramize trifft es tief, als Aral sie eines Tages anbrummt, sie werde nie eine gute Karikaturistin, dafür liebe sie ihren Mädchen-Kitsch viel zu sehr. Zwei Wochen heult und schmollt sie, bis sie das erste böse Mädchen zeichnet: Es zeigt seinem stolz auf seine neuen Schuhe hinweisenden Bruder provokativ den nackten Busen. Ramize bekam eine eigene Kolumne. Ihr Stil setzte sich durch. Er traf den Nerv der Zeit, in den Achtziger erlebte die türkische Frauenbewegung ihre Glanzzeiten. Lange zeichnete sie für die feministische Zeitschrift „Pazartesi“ (Montag) eine Hausfrau, die in den Gasmann verliebt ist und permanent kocht und putzt, um endlich wieder Flaschengas bestellen zu können. Heute zeichnet sie für die liberale Tageszeitung „Radikal“ täglich eine Kolumne über die Abenteuer des „bösen Mädchens“ oder das Beziehungsleben der Städter unter dem Titel, „gefährliche Beziehungen“.


„Atom“-Chefredakteur Bahadır Boysal zeichnet das Cyber-Luder, eine Istanbulerin, die alle moralischen Tabus verachtet.

Ganz anders funktioniert die Zeitschrift „Atom“ der LeMan-Gruppe. Atom versteht sich als Plattform für experimentelles Zeichnen. Auch Chefredakteur Bahadır Boysal zeichnet eine Cartoon-Serie über eine starke Frau. „Sanal Simge“ ist Cyber-Luder, eine Istanbulerin, die sich nichts gefallen lässt und alle moralischen Tabus verachtet. Cyber-Luder jagt Männer im Chat-Room und lässt sie am Ende jedes Zeichenabenteuers stets als blamierte Idioten zurück. Der zweiunddreißigjährige Boysal stammt aus einer konservativen Familie. Nach dem Studium an der Kunstakademie Mimar Sinan avancierte er zum stärksten Nachwuchstalent der Zeitschriftengruppe LeMan. Er zeichnet auch politische Kommentare für die Haupt-Zeitschrift „LeMan“. Er zeichnet in der Redaktionssitzung Ministerpräsident Erdoğan als blasiert aussehendes Kamel mit Oberlippenbärtchen. Die anderen Zeichner lachen zustimmend: Vielleicht das nächste skandalträchtige Titelbild?


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