IM TOTEN WINKEL DER EUROPÄISCHEN UNION
(n-ost) – Ein leichtes Schnalzen mit der Zunge, die Peitsche auf den Hinterbacken von Lilli. Schon fängt die braune Stute an zu traben. Mit ihr im Gleichschritt Csibész, der Hengst. Auf dem Kutschbock sitzt Sándor Nánási, mit wettergegerbtem Gesicht. Zum Schutz vor der sengenden Sonne trägt der 72-jährige einen Hut. Das Thermometer zeigt an diesem Tag 38 Grad Celsius an. Der kleine Ort im Osten Ungarns ist der Glutofen des Landes.
Sándor Nánási. Foto: Stephan Ozsváth
Sándor Nánási treibt seine Pferde weiter an. Ihre Hufe klappern über die Hauptstraße, die Kutsche fährt vorbei an heruntergekommenen Wohnblocks, einfachen Einfamilienhäusern und dem altehrwürdigen Rathaus der 10.000-Einwohner-Gemeinde Túrkeve. Nánási ist auf dem Weg zu Kindern aus der Verwandtschaft, um sie auf die Kutsche zu heben. Ein großer Freizeitspaß für sie, ein kleines Zubrot zum Lebensunterhalt für ihn. Die gelbgestrichene Kutsche rumpelt durch unzählige Schlaglöcher und über eine schiefe Brücke. Ein Storch zieht seine Kreise über der schilfgesäumten Berettyó. In der Luft liegt ein leichter Schwefelduft. „Vor vielen Jahren haben sie hier nach Öl gebohrt”, erzählt Sándor Nánási, „gefunden haben sie aber nur heißes Wasser.”Seitdem tauchen in dieses Wasser jedes Jahr 80.000 Besucher ein. „Es soll gesund sein”, erklärt der Kutscher und deutet auf ein Warmwasserbecken, in dem ein Dutzend alte Männer und Frauen dösen. Die Thermalbäder, das Spaßbad mit Wasserrutsche – sie sind eine Jobgarantie für 30 Leute aus der Stadt: Masseusen, Kassiererinnen, Büroangestellte, Bademeister. Immerhin.Darunter ist auch János, Nánásis ältester Sohn. János fährt auf einem kleinen Rasenmäher und beschneidet das Gras vor dem Schwimmbad, das sich mit EU-Geldern hübsch gemacht hat. „János ist Mädchen für alles in der Badeanstalt”, erzählt sein Vater. Der kann sich glücklich schätzen, denn alle seine Kinder haben einen Job: János im Schwimmbad. Katalin ist Sozialarbeiterin und kümmert sich um Rentner. Der Jüngste, Sándor, hat eine Tankstelle am Stadtrand.Das ist viel wert, und das weiß Sándor Nánási auch. Denn Ost-Ungarn gilt als magyarisches Armenhaus. Die Arbeitslosenquote in Túrkeve liegt seit der Wende konstant bei 30 Prozent. Offiziell. „Es gibt jetzt viele Arme”, sagt Sándor und lässt die Pferde wieder in Schritt fallen. „Vor der Wende hat hier fast jeder bei AFIT gearbeitet”, erzält Sándor. 1200 Fachleute aus Túrkeve haben auf dem Gelände am Rande des Puszta-Städtchens Lastwagen gewartet – die der Russen und die IFA 50 aus der DDR. Dann kam die Wende, IFAs wurden nicht mehr gebraucht und auch die Russen zogen aus Ungarn ab. Der Arbeitsmarkt in der kleinen Stadt brach zusammen. Um zu überleben, nimmt so mancher Bewohner Túrkeves heute große Strapazen auf sich. Tagelöhner fahren jeden Morgen um halb vier mit Bussen nach Budapest zum Arbeiten. Abends kommen sie zurück, mit nicht einmal 20 Euro Tagesverdienst in der Tasche. In den beiden Textilfabriken am Ort arbeiten vor allem die Frauen. Die örtliche Job-Vermittlerin hat sogar jetzt eine Handvoll Näherinnen-Jobs zu vergeben. Aber was für Jobs: Für einen Mindestlohn nähen die Frauen in Túrkeve Schürzen für andere Geringverdiener bei McDonalds. Die Firma „Abraham” hat sich auf dem ehemaligen AFIT-Gelände angesiedelt und baut Teile für Mercedes. Dort hofft man auf Aufträge aus Kecskemét, wo Mercedes ein großes Werk baut. Und auf den Feldern rund um Túrkeve wächst Gemüse für die Knorr-Tütensuppen. Die Globalisierung ist auch in der kleinen Puszta-Gemeinde angekommen. Für mehr Kontakte in die Welt fehlt aber beispielsweise eine Bahnverbindung. Die haben die Sozialisten Anfang der 70er Jahre eingestellt. Zu unrentabel. Der Bahnhof verfällt. Und die große Nationalstraße 4, die Budapest mit Debrecen und Rumänien verbindet – sie führt in 15 Kilometer Entfernung vorbei. Zufällig verirrt sich keiner nach Túrkeve. Das Städtchen liegt im toten Winkel der Europäischen Union. Sándor Nánási hatte nach der Wende Glück. Ihn traf die Entlassungswelle Anfang der 90er Jahre nicht. Mit seinem Pferdefuhrwerk lieferte er im Auftrag der örtlichen LPG Futtermittel aus. „Das habe ich viele Jahre gemacht”, sagt er, „auch noch nach der Wende.” Vor zwölf Jahren ist er in Rente gegangen. Er zeigt auf einen Bauernhof, mitten in der Puszta. „Den habe ich meinem Ältesten überlassen”, sagt der sehnige Mann. Gegenüber sind die verwahrlosten Ställe der ehemaligen LPG zu sehen, davor rosten Landmaschinen. „Das gehört jetzt einem Verwandten”, sagt er und weist den Hengst zurecht, der aus dem Tritt gerät. Das Pferd gehorcht sofort.
Sándor Nánási und seine Stute „Lilli“,
die ihm ein Zubrot beschert. Foto: Stephan Ozsváth
In Nánásis gelber Kutsche sitzen die Kinder eines Verwandten. Er ruft nach hinten: „Wollt ihr auch mal auf den Kutschbock ?” Drei Kinder kreischen vor Begeisterung. „Aber ich zuerst”, rangeln sie um den Platz neben „Sándor bácsi – Onkel Sándor”. „Sowas mache ich ab und zu”, erklärt er „Hochzeiten, Volksfeste, Kinder durch die Gegend kutschieren.” Ein Zubrot. Sándor Nánási kann jeden zusätzlichen Forint gut gebrauchen. „Ich bekomme 50.000 Forint Rente”, rechnet er vor. „Das sind gerade mal 200 Euro. Die gehen für die fixen Kosten drauf.” Seine 67-jährige Frau bekommt für die Erziehung der drei mittlerweile fast erwachsenen Kinder jeden Monat eine staatliche Unterstützung – 20.000 Forint, gerade mal 80 Euro. Zu wenig zum Überleben. Denn seit dem EU-Beitritt des Landes im Jahr 2004 haben die Preise deutlich angezogen. Der Rentner zählt auf, was alles teurer geworden ist: „Strom, Heizung, alles.” „Wollt ihr mal die Kälbchen sehen?”, fragt Sándor nach hinten in die Kutsche und lässt dabei den einzigen Schneidezahn aufblitzen, der ihm geblieben ist. „Ja!”, rufen die Kinder. Sándor wendet an der Ballai-Brücke, die die Deutschen im Krieg gesprengt haben: Ein Fischernetz hängt von Ufer zu Ufer, auf den Deichen führen Feldwege entlang. „Hej!” Sándor treibt die Pferde an. Vorbei geht es an den privaten Fischteichen, in denen die Karpfen frische Luft schnappen und große Kreise auf dem Wasser erzeugen.Immer noch brennt die Sonne heiß auf die Köpfe. Die Pferde schwitzen. Aber sie laufen jetzt schneller. „Sie wissen, dass es nach Hause geht”, sagt Sándor. An der reformierten Kirche biegt er ab, rechts erstrecken sich Datschen. Mit dem Obst und Gemüse, das in den kleinen Schrebergärten wächst, halten sich die Leute im Ort über Wasser. Und die Pflaumen werden zu Schnaps destilliert. „Hoh!” Sándor Nánási zieht die Zügel an. Vor einem niedrigen Haus aus Lehmziegeln und mit Reetdach, wie es typisch für die Region ist, sorgen ein paar Blumenbeete für etwas Farbe. Ansonsten führt der Weg zu den Ställen durch Morast. Ein schmutziger Hund kommt aus seiner Hütte und bellt, vor seiner dürftig zusammengenagelten Hundehütte gammeln Essenreste in einem verbeulten Kochtopf. Ein Dutzend Ferkel quiekt in den Ställen neben den Heuhaufen. „Wenn wir so eins verkaufen, bringt uns das immerhin 9000 Forint – rund 35 Euro”, sagt Sándor. „Und einmal im Jahr schlachten wir auch selber ein Schwein.” Daraus macht das Ehepaar Würste und Speck. Sándor streichelt einem Kälbchen über die feuchte Schnauze. „Und die Milch verkaufen wir.” Seine Frau fährt sie mit einem kleinen Elektro-Mofa zu den Kunden. Umgerechnet 40 Cent bekommt das Rentnerpaar pro Liter Milch – ungefähr das Doppelte kostet sie im Laden. „Früher hat uns die Molkerei eine garantierte Menge abgenommen“, sagt Sándor. „Dafür gab es jeden Monat 18.000 Forint, knapp 70 Euro. Aber das ist vorbei!”, schimpft er. Was sich seit dem EU-Beitritt verändert hat ? Er lacht verächtlich. „Jetzt kriegen wir gar nichts mehr.”
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