Mit Smartphone und Schlafsack
Mit einem billigen Interrail-Ticket in der Bahn quer durch Europa fahren und für Wochen abtauchen – das war einmal. Die Rucksackreisenden der Jetztzeit fahren zwar immer noch mit dem Zug, haben aber Mobiltelefone mit Videokamera und Internetzugang im Gepäck. Sie filmen, fotografieren und bloggen live. Sie treffen sich an Bahnhöfen mit Städte-Scouts, die ihnen als kundige Partner vor Ort bei der multimedialen Schnipseljagd helfen.
„Stadt-Land-Plus“ heißt das Projekt der Berliner Studentenagentur „Politikfabrik“, für das Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Schirmherrschaft übernommen hat. Zwei Wochen lang sind die zwölf Jugendlichen zwischen 22 und 29 Jahren in der Ukraine als Online-Reporter unterwegs. Töne, Texte und Bilder ihrer Erlebnisse stellen sie ins Internet.
Schnelligkeit ist dabei alles: Um 17.21 Uhr am Dienstagabend postet „Team Nord“ einen leicht quäkigen Ukraine-Clip, gedreht mit der Handy-Kamera. Zu sehen ist ein junger Mann, der einen Song aus orangen Revolutionszeiten klampft. Da sitzen die Reisereporter, frisch geduscht und geföhnt, aber nach 24 Stunden Zugfahrt von Berlin noch leicht zerknittert, gerade beim Hintergrundgespräch in der Deutschen Botschaft in Kiew. Entwaffnender Untertitel der Videobotschaft: „cooler journalist macht musik für uns in der botschaft. ansonsten ist unser ´briefing´ hier eher mäßig spannend.“ Im Internet können User die Gesangseinlage sehen, kommentieren und bewerten.150 Internetnutzer hatten sich online für die interaktive Reise in die Ukraine beworben – zwölf haben sich qualifiziert, weil sie drei Aufgaben nach dem Ergebnis einer Online-Abstimmung am besten gelöst haben. Student Markus Baumann (22) etwa ging im russischen Lebensmittelgeschäft in Jena auf die Suche nach „etwas Ukrainischem in Deiner Stadt“: Es gab Kwas, den typischen Brottrunk. „Eigentlich untrinkbar süß, aber gemischt mit etwas Wodka ging’s“, grinst der 22-Jährige, der für seine Onlinebewerbung auch Freunde nach ihrem Ukraine-Wissen befragte.
Lena von Seggern, 29-Jährige Soziologin, las in ihrem Austauschjahr in New York auf der Webseite ihrer Heimatuni von dem Projekt – und erkundete mit der Digitalkamera die ukrainischen Gemeinde in der Lower Eastside. „In einer Bar lernte ich eine ukrainische Studentin kennen, die dort kellnerte. Sie zeigte mir alles!“ Ein paar Mausklicks später waren die Interviews mit New Yorker Ukrainern im Netz. Für die originelle Umsetzung der Aufgabe bekam Lena soviel Stimmen, dass auch sie das Ticket als Ukraine-Reporterin lösen konnte.
Seit Mitte der Woche ist Lena in einem Dreier-Team in der Südukraine und auf der Krim unterwegs. Drei weitere Teams schwärmen in den Westen, den Norden und den Osten des Landes aus. Jeden Tag bekommen die Teams Aufgaben, die sie lösen und im Internet dokumentieren müssen. „Politik mit den Mitteln der Popkultur interessant machen“, nennt Christoph Fahle von der Politikfabrik das. Es gehe nicht um „Elitenprogramme für Osteuropakundler“, sondern darum, sonst „Schwerverdauliches“ für Jugendliche spannend zu machen. Als Geldgeber sind Allianz Kulturstiftung, die Robert-Bosch-Stiftung, die Bundeszentrale für politische Bildung und der ukrainische Fonds „Open Ukraine“ mit an Bord.
Dass die Ukraine nach dem Krieg in Georgien plötzlich wieder im Licht der Weltöffentlichkeit steht, haben inzwischen alle gemerkt. Beim Start in Kiew wirkten die Reporter dennoch leicht ratlos, nach welchen Alltagsgeschichten sie denn in den kommenden Tagen suchen wollen. Englischsprachige Journalisten und Studenten, eingeladen von der Botschaft, gaben erste Tipps. „Überall entstehen Bürgerinitiativen. Radfahrer kämpfen für ihre Rechte. Menschen wollen verhindern, dass Immobilienhaie die historischen Innenstädte mit Neubauten verschandeln“, gab der Gitarre spielende Journalist Ostap Kryvdyk seinen Altersgenossen mit auf dem WegFeinwerktechniker Marko (22) will in der ukrainischen Industriemetropole Donezk die Kohlekumpels besuchen, das Verhältnis der Menschen dort zum Nachbarn Russland erforschen und „mindestens ein Spiel“ von Fußballmeister „Schachtjar“ sehen. Dass er weder Ukrainisch noch Russisch spricht, kümmert ihn nicht weiter: „Oft fallen einem die besten Geschichten vor die Füße. Und wenn gar nichts geht, drehen wir eben das“, gibt sich Marko pragmatisch.
Als gebürtige Ukrainerin dürfte die 25-Jährige Anna Benz als einzige keine Sprachprobleme auf der Tour durch ihre ehemalige Heimat haben. Als 10-Jährige hat sie mit ihrer Familie ihren Geburtsort auf der Krim verlassen und ist nach Deutschland eingewandert. Als einzige hat Anna zudem einigermaßen frische Ukraine-Eindrücke: Im Sommer machte die BWL-Studentin eine Woche lang ein Praktikum bei Mercedes-Benz in Kiew und staunte über die dicken Luxuskarossen auf den Straßen.
Anna ist gespannt, wie sich das Ukrainebild ihrer Mitreisenden in den kommenden zwei Wochen verändert – jenseits der bekannten Bilder von Prostituierten, Klitschkos und Tschernobyl. „Für viele ist das Land einfach ein weißer Fleck auf der Karte“, ist Anna überzeugt.
Info: Die Reise dauert noch bis zum 28. September. Die Berichte der Teilnehmer können unter www.stadtlandplus.eu im Internet live verfolgt werden.