Sewastopol zwischen Gelassenheit und Sorge
Der Empfang war frostig trotz der immer noch hochsommerlichen Temperaturen auf der Krim. Als am Montag ein Boot der US-Küstenwache für einen Tankstopp im Hafen von Sewastopol festmachte, wurden die verdutzten Amerikaner von rund dreißig Bewohnern mit Sprechchören empfangen: "Nato - Stop" riefen sie, und "Yankee go home!". Die Mannschaft habe sich in den ersten Stunden nicht getraut, von Bord zu gehen, berichtete ein Reporter der russischen Nachrichtenagentur RIA genüsslich.
Vor ein paar Tagen fiel die Begrüßung freundlicher aus: Als der russische Raketenkreuzer "Moskwa" vom Kriegseinsatz in Georgien in seinen Heimathafen zurückkehrte, war die Hafenmole voller jubelnder Menschen, die "Rossija!" riefen und den Soldaten zuwinkten. Vereinzelt stiegen sogar Freudenraketen in den Himmel. Diese Begeisterung verwundert kaum: Obwohl die Krim zum Territorium der unabhängigen Ukraine gehört, ist Sewastopol faktisch eine russische Stadt - 80 Prozent der Einwohner sind russischstämmig.
In der Bucht am Südzipfel der Krim liegt noch bis mindestens 2017 die russische Schwarzmeerflotte. Schon vor 225 Jahren erkannte die russische Zarin Katharina II. die strategische Lage und ließ hier einen Flottenstützpunkt aufbauen. Seither ist Sewastopol ununterbrochen Militärhafen gewesen. Überall in der Stadt erinnern Denkmäler daran. "Die Kultur und die Geschichte unserer Stadt sind mit den Heldentaten von Russen verbunden", sagt Lehrerin Elena, die an der Hafenpromenade ein Sonnenbad nimmt. "Sewastopol war und wird immer eine Stadt russischen Ruhms bleiben."
Liegeplätze der russischen Flotte / Clemens Hoffmann, n-ost
Rund 20.000 Soldaten und noch mal so viele Zivilbeschäftigte leben heute von der Flotte. Fast jede Familie hat Angehörige, die bei der Flotte arbeiten. Viele von ihnen unterstützten im Kaukasuskonflikt die Position des Kremls ohne Vorbehalte. Wie Victor. Der blonde Junge aus Sankt Petersburg leistet in Sewastopol gerade seinen Wehrdienst als Marinetaucher. "Es war richtig, dass Russland eingegriffen hat. Unsere Truppen haben die Bevölkerung in Georgien nicht gefährdet, sie haben nur Militärobjekte angegriffen", sagt Victor. Er sitzt auf der Fähre, die jede halbe Stunde die Nord- und die Südseite der Bucht miteinander verbindet. Zehn Minuten dauert die Überfahrt, bei der sich ein herrlicher Ausblick auf die klassizisitischen Fassaden der "weißen Stadt am Meer" bietet.
Marinetaucher Victor: Richtig, dass Russland eingegriffen hat / Clemens Hoffmann, n-ost
Als die Rote Armee Sewastopol im Mai 1944 von der deutschen Wehrmacht zurückeroberte, war die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Wegen ihrer wichtigen Rolle im Krieg wurde sie von der Sowjetunion aber schon Ende der 40er Jahre komplett wieder aufgebaut. Zum Stadtjubiläum in diesem Sommer hat Sewastopol sich herausgeputzt, auch mit russischem Geld. Die Flotte hat die schönsten Adelspaläste bezogen, außerdem fließen allein 98 Millionen Dollar jährlich als Pachtzahlung in den städtischen Haushalt.
In der Leninstraße residiert Wladimir Kasarin, der stellvertretende Bürgermeister von Sewastopol. Er wurde nicht gewählt, sondern ist direkt dem ukrainischen Präsidenten Juschtschenko unterstellt. Kiew beobachtet genau, was in der Stadt vor sich geht. Dass Sewastopol das nächste Zentrum heißer Auseinandersetzungen mit Russland werden könnte, streitet Kasarin ab. Zwar habe es Protest-Demonstrationen in der Stadt gegeben, weil Präsident Juschtschenko sich auf die Seite von Georgien geschlagen habe. Aber die Kundgebungen hätten nur jeweils ein paar Dutzend Menschen besucht. "Für eine Stadt mit fast 500 Tausend Einwohnern ist das vernachlässigbar".
Die russlandfreundliche Stimmung in der Stadt werde von einzelnen separatistischen Grüppchen ausgenutzt, die für einen Wiederanschluss an Russland plädieren, so Kasarin. Doch diese Bewegung stelle "keine kritische Masse" dar. Aktuelle Umfragen scheinen dem Bürgermeister Recht zu geben: Nur 11 Prozent der Bewohner der Süd-Ukraine waren im Juni dafür, dass die Krim wieder zu Russland gehören solle. 57 Prozent dagegen wollen, das alles beim alten bleibt: dass die Krim eine autonome Republik innerhalb der Ukraine bleibt.
Dass Russland nun massenhaft russische Pässe an Krimbewohner verteile, um einen Vorwand für spätere "Schutzmaßnahmen" zugunsten seiner Staatsangehörigen zu haben, sei ein Gerücht, sagt Kasarin. Er habe noch keine Menschenschlangen vor dem russischen Konsulat in der Krimhauptstadt Simferopol gesehen. Doch die Lage ist komplizierter als der Bürgermeister zugeben will.
Als Victors Fähre an der Nordseite der Bucht anlegt, wartet dort eine Gruppe Rentnerinnen. Die älteren Damen halten Pappschilder hoch, auf denen sie Fremdenzimmer für russische Krim-Urlauber anbieten. So bessern sie ihre kargen Renten auf. Die meisten müssen mit knapp 100 Euro im Monat auskommen. Die 67jährige Alla Petrovna hat einen ukrainischen Pass. Gezwungenermaßen, empört sie sich: "Als die Ukraine unabhängig wurde, hat man uns gesagt: Tauscht eure russischen Pässe um, sonst bekommt ihr keine Rente." Wenn die Krim eines Tages wieder zu Russland gehören sollte, wäre ihr das ganz recht: "Wir wünschen uns Stabilität."
Doch Alla Petrovna ärgert sich über die ukrainische Sprachenpolitik. Seit Kiew mit Macht die Ukrainisierung des Landes vorantreibt, und zum Beispiel staatliches Radio und Fernsehen auf der Krim auf Ukrainisch senden, fühlen sich die Russischstämmigen im Osten und Süden des Landes als Bürger zweiter Klasse: "Warum muss ich mir auf einmal eine Satellitenschüssel kaufen, um russische Sendungen zu empfangen?", schimpft die alte Dame. Und die anderen stimmen ihr zu: "Bei Medikamenten ist es besonders schlimm, alle Informationen sind nur noch auf Ukrainisch", erzählt die 60jährige Nina, die unter einem bunten Sonnenschirm hockt und getrocknete Kürbiskerne verkauft.
Dass es um die Krim einen offenen militärischen Konflikt geben könnte, wie jetzt vom Westen befürchtet, halten die meisten Krimbewohner für unmöglich: "Die Ukraine und Russland sind viel zu eng verbunden, Slawen kämpfen niemals gegen ihre Brüder", glaubt Igor, der mit seinem Sohn auf dem Markt Hefte fürs neue Schuljahr kauft.
Anatoli Serda ist sich da weniger sicher. Der Kapitän der Fähre beobachtet mit Sorge, wie Präsident Juschtschenko sein Land in Richtung Nato führt. Man solle den russischen Bären nicht unnötig reizen, sagt Serda: "Der Nato-Beitritt führt zu nichts. Wir wollen in Freundschaft mit den Völkern leben, insbesondere mit den Nachbarn."
Fährkapitän Serda: Den russischen Bären nicht unnötig reizen / Clemens Hoffmann, n-ost
Am Abend sind die Straßen Sewastopols voller junger Leute: Langhaarige Schönheiten flanieren in Miniröcken, behängt mit falschen Prada-Täschchen. Vom Meer weht eine warme Brise. Rosenverkäufer kreisen um verliebte Paare. Am Ende der "Großen Meeresstraße" hat McDonalds seine Schirme aufgespannt. Alle Terrassenplätze sind belegt.
Student Kolja mit Freundinnen: Hoffen, dass es friedlich bleibt / Clemens Hoffmannn, n-ost
Der 21jährige Management-Student Kolja, der dort mit drei Freundinnen den Abend verbringt, hofft, dass es auf der Krim friedlich bleibt. "Ich verstehe dass Russland seine Probleme mit der Nato lösen will, aber es ist unzulässig, dass dies auf Kosten von Menschen geschieht." Dann wirft er das Tablett mit den leeren Pommes-Frites-Schachteln in den Edelstahl-Mülleimer: "Djakuemo" - "Danke" steht in Ukrainisch auf der Klappe des Behälters. Sieht so das nächste Südossetien aus? Schwer vorstellbar.