Eine Kämpferin auf Krücken
Kerzengerade steht sie in der Tür, den zarten Körper auf zwei Krücken gestützt. Lächelnd und mit offenem Blick bittet Anna Schutenko den Besucher herein. Die 67-jährige Ukrainerin trägt das rotblonde Haar gewellt, ihr Lippenstift ist sorgfältig darauf abgestimmt. Dezente goldene Ohrstecker, der feine blaue Lidstrich unter den wasserblauen Augen und die rosa Bluse lassen sie jünger aussehen. Mit ein paar geschickten Bewegungen platziert sie sich auf dem Sofa, das sich abends in ihr Bett verwandelt. Die Krücken legt sie neben sich.
Die Rentnerin Anna Schutenko / Clemens Hoffmann, n-ost
„Mit 15 habe ich Kinderlähmung bekommen. Ich besuchte schon die 9. Klasse. Das war ungewöhnlich spät. Normalerweise trifft der Virus Achtjährige“, beginnt Anna Schutenko, von ihrer Behinderung zu erzählen. Eine Polio-Epidemie hatte 1957 die Ukraine heimgesucht. Die tückischen Viren befielen die Nerven in Annas Rückenmark, die für die Koordination der Muskeln verantwortlich sind. „Von einem auf den anderen Tag war ich gelähmt. Drei Jahre habe ich nur im Bett gelegen“, erinnert sie sich an die schwerste Zeit ihres Lebens. Den Schulabschluss musste sie im Sanatorium machen. Doch über diese Jahre des Leidens verliert Anna Schutenko keine großen Worte. Und das ist ihr Naturell: Nur voraus schauen, niemals zurück! „Ich bin eine Kämpferin“, sagt sie – und ihre Augen blitzen. Was das bedeutet? „Ich will nicht aufgeben. Wenn man pessimistisch ist, braucht einen niemand. Es ist besser zu kämpfen, optimistisch zu sein – und zu lächeln. So ist es ist einfacher mit den Menschen.“Mit viel Geduld und noch mehr Disziplin lernt Anna Schutenko mit 18 Jahren wieder das Laufen. Sie findet ihren Weg ins Leben. Sie studiert Mathematik, arbeitet später als Lehrerin. Ihre Dissertation muss sie abbrechen, weil sie ständig von Kopfschmerzen geplagt wird. Kurz darauf findet sie Arbeit als Computer-Programmiererin in einem staatlichen Stadtplanungsinstitut in Kiew. Der Stelle in dem Institut hat sie auch ihre bescheidene Zweizimmerwohnung in Darnizja, einem der Trabantenbezirke am linken Dnepr-Ufer zu verdanken. Die Wohnung gehört ihr, sie muss nur die Nebenkosten bezahlen. Eine große Erleichterung: „Heute wäre so etwas für mich unbezahlbar“.
Mit viel Disziplin und Energie meistert Anna Schutenko ihr Leben / Clemens Hoffmann, n-ost
Auf dem Buffet hinter ihr hockt ein brauner Plüschhase mit rosa Ohren. In den Schränken über ihrem Kopf steht neben Bildern aus Kindertagen das Hochzeitsfoto ihres Bruders. Sie selbst ist unverheiratet geblieben. „Jetzt ist es wohl zu spät“, sagt sie mit feinem Lächeln. Dass ihre körperliche Behinderung ein privates Glück verhindert haben könnte, will sie so nicht aussprechen. Aber die bittere Wahrheit ist ihr bewusst. „Ich hätte keine Kraft gehabt, mich um eine Familie zu kümmern“, windet sie sich. Um sich dann zu verbessern: „Wenn sich jemand dafür entschieden hätte, sich um mich zu kümmern, wäre es schön gewesen. Aber leider ist das nicht geschehen.“
So pflegt sie ein inniges Verhältnis zu ihrer Familie: Ihre bald 90-jährige Mutter lebt immer noch im eigenen Haus, nicht weit von Kiew. Anna Schutenkos ältere Schwester und der jünger Bruder, beide schon im Rentenalter, kümmern sich um sie. Ab und zu holen sie sie mit dem Auto zu Familientreffen ab. „Mama ist alt, das Haus ist für sie zu groß, aber ich kann ihr nicht helfen. Und sie will nicht in meine Wohnung umziehen, weil sie an das Haus gewöhnt ist“, erzählt Anna Schutenko.Doch sie selbst will auch nicht umziehen. Sie liebt ihre eigene Wohnung mit den betagten, aber gepflegten Möbelstücken und den behaglichen Wandteppichen – und sie liebt ihre Selbständigkeit: „Der Flur ist schäbig und ich schäme mich dafür, dass ich kein Geld habe, ihn zu renovieren. „Aber der Balkon ist im Sommer wunderschön.“ Anna Schutenko zieht sich an einem Stuhl hoch, stemmt sich auf Krücken zur Balkontür, öffnet sie: Obwohl sie im Erdgeschoss wohnt, geht der Blick auf dichtes grünes Laub. Vögel zwitschern, der Verkehr ist kaum zu hören. Ein Großstadtidyll.
Ihren Alltag meistert die 67-Jährige mit eiserner Disziplin. Jeden Morgen nach dem Aufstehen macht sie eine Stunde Gymnastik. Nachmittags geht sie spazieren. Ein städtischer Sozialarbeiter hilft beim Einkaufen, eine Pflegerin der Caritas bringt ab und zu kostenlos Medikamente vorbei. Die Hilfe nimmt Anna Schutenko gerne an. 722 Hrivna Sozialhilfe bekommt sie als Behinderte im Monat, umgerechnet sind das 100 Euro. Ihre Rente wäre nur 600 Hrivna gewesen. Sie konnte wählen: Rente oder Sozialhilfe. Dazu kommen noch umgerechnet 6 Euro Sonderrente als „Kind des Krieges“, weil sie 1942 geboren ist. Außerdem bessert die Stadt Kiew den Alten und Kranken die Haushaltskasse mit 100 Hrivna, etwas mehr als 10 Euro, auf. Anna Schutenko überlegt gar nicht, ob das zu wenig ist: „Es muss reichen, jedenfalls wird es nicht mehr!“Die mittlerweile höchste Inflation in Europa macht sich auch in ihrem Portemonnaie bemerkbar. Die meisten Preise sind im Vergleich zum Vorjahr um drastische 30 Prozent gestiegen.
Das meiste Geld gibt Anna Schutenko für Essen und Medikamente aus – Mittel zur Kräftigung des Nervensystems, etwas fürs Herz. Und neuerdings auch für ihre Augen. Auf dem Linken ist sie fast blind. Erst kürzlich musste sie 500 Hrivna für eine Untersuchung ausgeben. Man hat ihr eine Augenoperation empfohlen. Doch Anna Schutenko ist skeptisch: „Ich weiß nicht, wie ich das bezahlen soll.“ Ihre Mutter bekommt 550 Hrivna Rente, ihr Bruder 1800 Hrivna. Und der muss davon eine Familie ernähren. Alle drei Tage kocht Anna Schutenko für sich, an zwei Tage wärmt sie sich davon ihr Essen auf. Auf dem Herd in der blitzsauberen Küche köchelt Borschtsch, die bunte ukrainische Gemüsesuppe, danach gibt es Kascha, einen warmen Brei aus Buchweizen. An anderen Tagen ernährt sie sich von Kartoffeln, manchmal reicht das Geld für Frikadellen oder Kohlrouladen. Für Kleidung und andere Extras bleibt so gut wie nichts übrig. Das sei nicht weiter schlimm, meint Anna Schutenko lakonisch – schließlich gehe sie nicht viel aus. Und außerdem halte sie ihr Gewicht. So müsse sie sich nicht dauernd neue Kleider kaufen.
Daraus zu schließen, Aussehen sei ihr nicht so wichtig, wäre allerdings verkehrt. Still genießt sie die Aufmerksamkeit des Fotografen. Ihr schönes Gesicht blickt offen und ohne Scheu in die Kamera. Bekannte hat sie wenige. Ein paar alte Arbeitskollegen, die Nachbarinnen. Die Leute im Viertel begegnen der Frau mit den Krücken distanziert: „Wir winken uns zu“, umschreibt Anna Schutenko die Vorbehalte. Einmal ist sie im Park angegriffen worden. Doch weiter will sie nicht darüber reden. Wieder spürt man ihre Kämpfernatur: Über gefühlte und erlebte Verletzungen zu sprechen, könnte als Schwäche aufgefasst werden. Als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte, hatte Anna Schutenko mehrere Zeitungen abonniert. Doch inzwischen sind Zeitungen teuer geworden. Und das Lesen fällt ihr immer schwerer. Im Fernsehen hört sie sich Natur- und Wissenschaftssendungen an. Manchmal einen Spielfilm „Aber keine Soaps – da geht es doch um nichts!“, empört sie sich. So verbringt Anna Schutenko viel Zeit am Telefon. Die meisten ihrer Freundinnen sind ebenfalls behindert – Bekanntschaften, die sie während langer Sanatoriumsaufenthalte geschlossen hat.
Doch die Frauen sehen sich selten: Es gibt zu wenig Möglichkeiten für Behinderte, sich in der Stadt frei zu bewegen, beklagt Anna Schutenko. Die Straßen sind unwegsam, an Unterführungen fehlen Aufzüge. Der Kiewer öffentliche Nahverkehr – die Metro, klapprige Busse, rostige Straßenbahnen – ist in keiner Weise behindertentauglich. Angeblich gebe es spezielle Busse für Behinderte. „Ich habe noch keinen gesehen!“ Energisch schüttelt die ältere Dame den Kopf.
Zu Zeiten der Sowjetunion ist sie viel gereist – vor allem in die Sanatorien und Kurheime im Kaukasus. Doch seit die Ukraine 1991 unabhängig wurde, war sie nicht mehr im Ausland. Sie besitzt nicht einmal einen Reisepass. Nach Deutschland würde sie gerne einmal fahren, einfach um zu schauen, wie es dort ist. Deutsch hat sie in der Schule gelernt, und in ihrem Bücherschrank steht ein deutscher Sprachführer mit nützlichen Redewendungen für Touristen. Viele Nachbarn aus ihrem Haus, sind für immer nach Deutschland gegangen. „Dort achtet man uns Ukrainer mehr, als hier zu Hause“, haben ihr die Umsiedler erzählt. Keiner von ihnen ist zurückgekommen. Anna Schutenko wundert das nicht: „Als wir unabhängig wurden, waren wir alle sehr glücklich. Aber mit den Jahren ist die Hoffnung immer kleiner geworden. Wir haben keine Stabilität. Unsere Regierenden streiten miteinander – und wir haben darunter zu leiden. Deshalb sind heute viele Menschen unzufrieden und sehen sich nach den alten Zeiten.“
Sich selbst erlaubt Anna Schutenko solche nostalgischen Anwandlungen nicht. Die meisten verklärten die alten Zeiten, weil sie jünger gewesen seien, konstatiert sie streng. „Als ich jünger war, war es leichter, mit Leuten in Kontakt zu kommen. Mit dem Alter wird es schwieriger. Die Ansprüche steigen. Man mag nicht unbedingt jede Person, die man trifft, findet nicht immer eine gemeinsame Sprache.“Doch die Hoffnung will sie auch nicht aufgeben. Manchmal träume sie von einem Leben ohne Krankheiten, gibt Anna Schutenko zu. Und schämt sich prompt für diese egoistische Aussage. Jedenfalls beeilt sie sich, von allgemeineren Wünschen zu sprechen: „Ich träume davon, dass die Ukraine ein blühendes Land wird. Und ich wünschte, dass jeder Mensch in diesem Staat gebraucht wird. Wir haben viele Behinderte in unserem Land. Keiner kennt sie, niemand weiß von ihnen.“ Doch Angst macht ihr diese Abgeschiedenheit, in der sie als Behinderte lebt, nicht: „Alles, wovor man Angst haben kann, ist mir schon passiert. Ich habe keine Angst mehr“. So spricht eine Frau, die das Kämpfen gelernt hat.