Trügerische Hoffnungen
(n-ost) - Es sollte ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"werden: Am 5. April 1968 gab Alexander Dubcek, Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, ein Reformprogramm bekannt. Diese Zeit der Liberalisierung ging als "Prager Frühling" in die Geschichte ein. Nur wenige Wochen später, am 21. August, marschierten Truppen der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein. Über das Scheitern des "Prager Frühlings" sprach Barbara Breuer mit dem Reformer und Historiker Jan Kren (77).Jak Kren, Historiker aus Prag und Reformer von 1968. Foto: Barbara Breuer Herr Kren, Sie wurden 1930 in Prag als Sohn eines Arbeiters geboren. Wie wurden Sie Kommunist?Kren: In unserer Familie wurde so gedacht. Außerdem hatte ich in jungen Jahren viel Elend erlebt, etwa die schlimmen Folgen von Arbeitslosigkeit und auch die deutsche Besatzung. Das alles hat bei mir zu der Vorstellung geführt, dass sich die Verhältnisse nach dem Krieg ändern müssen. Als ich dann studiert habe, erreichte der Stalinismus seinen schrecklichen Höhepunkt. Aber ich war noch zu jung, um mir das einzugestehen. Meine kritische Haltung zum Kommunismus begann sich erst Anfang der 50er Jahre zu entwickeln.Mit Beginn der 1960er Jahre geriet die C(SSR in eine tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise: Woher kamen 1963, auf ihrem Höhepunkt, die reformerischen Stimmen?Kren: Die Führung konnte und wollte die politischen Prozesse nicht revidieren, und die Wirtschaftspolitik war erfolglos. Gleichzeitig gab es in der Partei eine schnell wachsende Gruppe, die Reformen wollte. Für die Bevölkerung kam ein Regierungssturz nicht in Frage. Auch 1968 wünschte sich ein Großteil der Menschen eine Reform des Sozialismus -- nicht seine Abschaffung.Wurde der "Prager Frühling" von den 68er-Bewegungen im Westen inspiriert?Kren: Ja, die westliche Bewegung hat sich in der Tschechoslowakei sehr stark widergespiegelt. Es gab verwandte Reaktionen gegen das Establishment - ob gegen das westliche oder das bolschewistische. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Arbeit, die den Besuch - wenn ich mich recht erinnere - Daniel Cohn-Bendits und Rudi Dutschkes bei Prager Studenten untersucht. Es gab allerdings den großen Unterschied, dass die Tschechen nicht an revolutionäre Ideale glaubten. Die westlichen Studenten empfanden die tschechischen Studenten daher eben "nur" als Reformer, während sie wiederum von den Tschechen ein bisschen als verrückte Radikale betrachtet wurden.Am 5. April 1968 stellte Alexander Dubcek ein Aktionsprogramm vor. Das Ziel hieß: gesellschaftlicher, aber nicht politischer Pluralismus. Sie waren damals Hochschullehrer an der Prager Parteihochschule. Warum haben Sie an den "Sozialismus mit menschlichen Antlitz" geglaubt?Kren: Unser Programm war beachtenswert, weil es das umfassendste Reformprogramm im kommunistischen Lager war. Darin wurde etwa nicht nur die Rehabilitierung verurteilter Kommunisten gefordert, sondern auch die der Nichtkommunisten. Außerdem wurde an deren Entschädigung gedacht. Der ursprüngliche Vorschlag war ein schnelles, kurzes Programm. Die langwierigen Verhandlungen mit etwa 100 Beteiligten der Reformkommission waren der erste große Fehler. Erst nach zwei Monaten wurde das Programm veröffentlicht. Alles, was es enthielt, wurde bereits öffentlich debattiert. So hat die Reformerseite ein Stück ihrer Initiative eingebüßt.Schon in den Jahren 1963 bis 1967 gab es Lockerungen...Kren: Ja, vor allem deshalb, weil die gespaltene Partei nicht mehr in der Lage war, die Gesellschaft zu dirigieren. Kulturschaffende schauen gerne auf diese für sie herrliche Zeit zurück, die sich im regen tschechoslowakischen Filmschaffen oder in der aufblühenden Literatur manifestiert hat. Gleichzeitig wurde auch die Pressezensur immer durchlässiger bis zu ihrer Aufhebung. Auf einmal war wieder die Soziologie erlaubt. Auch die Wirtschaftstheorie wandelte sich stark.Bereits im Februar 1968 hob Dubcek die Zensur auf. Wie nahmen die Menschen die Liberalisierung auf?Kren: Interessant an der Stimmung im Land war, dass sie sich Woche für Woche in unterschiedlichen Aktivitäten entlud. So haben sich inoffizielle Bürgerforen gebildet wie der "Klub der Parteilosen" oder eine Organisation der Menschen, die in den 50er Jahren verfolgt und inhaftiert wurden. Es gab eine Plattform für die Erneuerung der Sozialdemokratie. Diese Aktivitäten begannen langsam, den Rahmen der Reformen "von oben" zu überschreiten.War das Drängen nach Reformen auf Prag begrenzt?Kren: Nein, im Sommer 1968 hat sich die Provinz der Hauptstadt angenähert. Charakteristisch dafür waren die Kreisparteitage der Kommunistischen Partei, die fast ausnahmslos damit endeten, dass die Reformbefürworter ins Amt gehoben wurden. In der Nacht zum 21. August 1968 sind Truppen der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei einmarschiert. Sie hatten als Kind den Einmarsch der Nazis in Prag erlebt. War das für Sie ein Déja-vu?Kren: Natürlich war das ein Schock. Die Tschechoslowaken haben in den Sowjets nach 1945 immer noch die Befreier gesehen. Und auf einmal hat der Befreier ihr Land okkupiert. Daran ist die alte Sympathie für die Russen zerbrochen. Nicht zuletzt hat das auch die Befreiung entwertet. Zudem hat es die Vorstellung erschüttert, das System sei reformierbar. Auch ich bin zu der Ansicht gekommen, dass der Sozialismus nicht demokratisierbar ist.Nach dem Einmarsch sollten die führenden Reformer die "Moskauer Protokolle" unterzeichnen, die das Ende der Reformen und die Zustimmung zur Stationierung der Sowjettruppen forderten. Alle, bis auf Frantisek Kriegel, Chef der Nationalen Front, haben unterschrieben. Ein Fehler?Kren: Bestimmt, zumal sie sich so in eine defensive Position begeben haben. Andererseits waren sie als sowjetische Gefangene nicht unabhängig. Ich glaube aber, den entscheidenden Umschwung hat die Tatsache eingeleitet, dass in den Protokollen kein Termin für den Abzug der Besatzer stand, was die Hauptforderung der tschechoslowakischen Öffentlichkeit war.Obwohl die Regierung dazu aufgerufen hatte, keinen militärischen Widerstand zu leisten, wehrte sich das Volk. Wie viele Opfer zählt der "Prager Frühling" wirklich?Kren: Die meisten waren junge Demonstranten, auf die die Sowjets einfach geschossen haben. Gestorben sind etwa einhundert. Alle Opfer sind inzwischen bekannt, und es wird ihrer gedacht.In den ersten Wochen der Besatzung haben Tschechen und Slowaken versucht, die Russen durch zivilen Ungehorsam zu verwirren. Können Sie dafür Beispiele nennen?Kren: Der Widerstand der Bevölkerung war kolossal. Er zog sich vom letzten slowakischen Dorf bis nach Prag. Die Menschen hängten Wegweiser falsch herum auf und beklebten die Versorgungsrationen russischer Truppen mit Plakaten, auf denen stand: "Lenin erwache, Breschnew ist verrückt geworden." Dieser zivile Widerstand neutralisierte diese riesige Armee fast ein Jahr lang. Die Sowjets mussten erst Kollaborateure finden, dann konnten sie diese Bewegung vergewaltigen. Das ganze Experiment endete langsam und traurig im August 1969. Zum ersten Jahrestag des russischen Einmarsches war die Zahl der Demonstranten genau so groß wie die Zahl derer, die Proteste verhindern sollten. Die Unterdrückung des Widerstandes war also "hausgemacht".Sie selbst mussten 1969 ihren Posten als Hochschullehrer räumen. Wie haben Sie sich damit arrangiert?Kren: Ich habe bereits in den 60er Jahren kritische Arbeiten geschrieben, die nicht mehr ganz mit der Lehre konform gingen. Als ich mit einem Berufsverbot belegt wurde, wollte ich lieber gleich einen Arbeiterberuf ergreifen. Wie ich entschieden sich viele Historiker. Die folgenden 20 Jahre habe ich als Pumpenwärter bei den Prager Wasserwerken verbracht. Ich habe in einer Abteilung gearbeitet, in der 32 Leute beschäftigt waren - darunter sieben Unterzeichner der Charta 77. Das gab uns die Möglichkeit, fachlich miteinander zu diskutieren und uns gegenseitig zu unterstützen. Es war für uns die Zeit der größten inneren Freiheit.Nach dem "Prager Frühling" sind bis zu 100.000 Tschechen und Slowaken emigriert. Warum sind Sie geblieben?Kren: Für mich kam es nicht in Frage, meine Heimat und meine Familie zu verlassen. Und außerdem haben wir uns damals nicht vorstellen können, dass die Besatzung 20 Jahre dauern wird.Die Re-Sowjetisierung wird in Tschechien zynisch als "Normalisierung" bezeichnet...Kren: Das war der Terminus des Regimes, den die Geschichtswissenschaft ironisch übernommen hat. Damals war nichts normal. Nach dem Einmarsch gab es etwas, das man nicht anders als "soziale Massendeportation" bezeichnen kann. Eine halbe Million Menschen wurde nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern auch der Möglichkeit beraubt, jedwede intellektuelle Tätigkeit auszuüben. Und so hat die Tschechoslowakei die gesamte Revolution der Informationstechnologie und andere wichtige Entwicklungen der 70er und 80er Jahre komplett verpasst.Wie wird der "Prager Frühling" heute, 40 Jahre später, in Tschechien interpretiert?Kren: Das mediale Echo ist ziemlich negativ. Die politische Rechte deutet die Bewegung nur als einen Streit der obersten Kommunisten untereinander. In den letzten Jahren hat sich diese Sicht aber etwas erweitert, weil man erkannt hat, dass es auch einen demokratischen Zusammenhalt in der Gesellschaft gab, der reale Auswirkungen auf das künstlerische und wissenschaftliche Arbeiten hatte.Bereuen Sie etwas?Kren: Wenn man Jahre später zurückblickt, hat man Vorbehalte gegenüber sich selbst. Ich glaube, dass es bei mir und vielleicht bei einem Großteil meiner Generation zu lange gedauert hat, bis wir uns vom Kommunismus und seinen dogmatischen Paradigmen getrennt haben.
Hintergrund: Das ReformprogrammDas Aktionsprogramm der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) vom 5. April 1968 propagierte einen neuen Kommunismus, in dem der Mensch als "Wert über allen Werten" galt.
Der Zentralismus sollte abgebaut, Machtkonzentrationen verhindert, innerparteiliche Demokratie und ein parlamentarischer Mehrparteienstaat unter Führung der KPC aufgebaut werden. Diese Führung musste die KPC mit "politischen Taten" legitimieren. Das Rechtssystem hatte nun die Freiheit von Meinung, Presse, Wissenschaft, Information und Reise, also kulturellen Pluralismus, zu sichern. Die Wirtschaft sollte weniger an den Plan gebunden sein. Innerbetrieblich gab es ein starkes Bestreben, demokratische Strukturen zu schaffen, in denen Beschäftigte und Vertreter der Regionen die Entscheidungen treffen. Die Minderheiten erhielten die Aussicht auf kulturelle Selbstbestimmung, die Slowaken auf eine staatsrechtliche Gleichberechtigung in Form einer Föderalisierung.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0