Fernweh, Konsum und die digitale Revolution
Iryna Vidanava ist Historikerin und forscht über die belarussische Zivilgesellschaft. Sie hat Geschichte an den Belarussischen Staatlichen Universität unterrichtet und an der John Hopkins-Universität in den USA „Management von Non-Profit Organisationen und Internationale Politik“ studiert. Sie war Chefredakteurin der belarussischen Studentenzeitschrift „Studumka“ und ist heute Herausgeberin des CDMag, eine Multimedia-Zeitschrift für Jugendliche.
ostpol: Wie lassen sich die wesentlichen Herausforderungen beschreiben, denen sich belarussische Jugendliche heutzutage stellen müssen?
Iryna Vidanava: Viele belarussische Jugendliche zeigen einen Mangel an persönlicher Freiheit und Eigeninitiative. Die Angst vor dem Regime unterbindet Initiative und festigt Konformismus. Stattdessen sind Materialismus und Konsumismus sehr stark ausgeprägt, was wiederum in politischer und zivilgesellschaftlicher Apathie resultiert.
Ist die belarussische Jugend ebenso isoliert wie ihre Heimat?
Vidanava: 61 Prozent der Jugendlichen, die zwischen 18 und 24 Jahre alt sind, sind noch nie in den Ländern der EU gewesen. Mehr als 50 Prozent haben noch nie mit einem Ausländer gesprochen. Wegen der rapiden Entwicklung der Informationstechnologie sind unsere Jugendlichen aber auch stärker mit dem Rest der Welt vernetzt, eben im Internet. Die „Neuen Medien“ sind Bestandteil im Alltag der „digitalen Eingeborenen“ in ganz Europa. Belarus, wo drei der zehn Millionen Einwohner das Internet benutzen, macht da keine Ausnahme. Das wiederum bedeutet aber, dass Wissen häufig durch „virtuelles“ und persönliches Wissen geprägt und deshalb häufig verzerrt ist.
Träumen viele Jugendliche von einer Auswanderung?
Vidanava: In einer Umfrage, die im Juni 2008 durchgeführt wurde, gaben weniger als die Hälfte der Befragten an, nicht zu glauben, dass junge Menschen in Belarus gute Perspektiven hätten. 40 Prozent gaben gar den Rat, das Land zu verlassen, wenn man erfolgreich sein wolle. Menschen, die zwischen 16 und 30 Jahre alt sind, machen 40 Prozent derjenigen aus, die das Land in den vergangenen drei Jahren verlassen haben.
Wenn ein Jugendlicher sich entscheidet, den staatlich-kontrollierten Sektor zu verlassen, um politisch oder zivilgesellschaftlich aktiv zu werden, auf welche Herausforderungen trifft er?
Vidanava: Es ist in Belarus wesentlich einfacher, aktiv zu werden, wenn man jung ist und an den Staat und seinen Strukturen gebunden ist. Wenn man beispielsweise Stundet ist, bist du angreifbarer und abhängiger, da die Bildung vom Staat kontrolliert wird. In der Vergangenheit sind Studenten, die aktiv politisch waren, gemoppt, bedroht und von ihren Universitäten verwiesen worden. Hunderte mussten deshalb ins Ausland gehen. Die Jugendlichen, die mutig genug sind, um an Demonstrationen teilzunehmen, werden regelmäßig verprügelt. Seit den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006, die vor allem von der Jugend getragen wurden, ist die Jugend zur Zielscheibe staatlicher Repression geworden. Erst vor geraumer Zeit sind wieder rund ein Dutzend männlicher Studenten zum Armeedienst gezwungen worden. Wer in Belarus aktiv wird, tut dies meistens in einer der Organisationen, die meistens nichtregistriert sind, weil sie nie eine staatliche Registrierung bekommen würde. Der berüchtigte Artikel 193.1 allerdings besagt, dass sich derjenige, der in einer solchen nicht-registrierten aktiv wird, strafbar macht und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Welche Rolle spielt das Internet für junge Belarussen, um kritische Informationen zu beziehen und zu produzieren?
Vidanava: Seit den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006 haben sich zwei sehr starke Trends herauskristallisiert: einmal das Aufkommen der „Neuen Medien“ und zweitens die Zunahme des Jugend-Aktivismus. Es gibt sehr viele Verbindungen zwischen diesen Trends. Einmal: Die Internet-Medien sind eine der wenigen Bereiche, in denen die demokratische Opposition das Regime in Bezug auf Qualität und Leserschaft entscheidend geschlagen hat. Die „Neuen Medien“ ziehen „die besten und intelligentesten Jugend-Aktivisten und Non-Konformisten“ an. Der belarussische Cyberspace ist voller hervorragender origineller Ideen und Kreativität. Zweitens, die „Neuen Medien“ wird vor allem von jungen Menschen dominiert. Junge Belarussen sind die innovative Kraft in diesem Bereich. Drittens, die „Neuen Medien“ bieten nicht nur zunehmend einflussreiche und unabhängige Informationen sondern sie sind auch eine wichtige Plattform, über die man seinen Widerstand gegenüber dem Regime artikulieren kann. Und letztlich: die „Neuen Medien“ sind das wichtigste Werkzeug, das von der Jugend benutzt wird, um noch mehr Jugendliche für die demokratische Opposition zu begeistern. Ich glaube auch, dass die Proteste 2006 diese Trends beschleunigt haben. Schließlich sind Parteien vielen Jugendlichen zu eng, vielleicht zu konfrontativ, zu destruktiv. Im Internet kann jeder etwas Konstruktives schaffen und gleichzeitig etwas für sein Land und seine Kultur tun.
Wie hat die demokratische Opposition auf diesen Trend reagiert?
Vidanava: Die ältere Generation demokratischer Aktivisten und auch Regime-Ideologen sind in der virtuellen Welt kaum aktiv. Das heißt: die Väter der demokratischen Opposition können kaum ihre Kinder erreichen. Wie überall sind die „Neuen Medien“ sehr attraktiv für unsere Jugendlichen. Anders als die gespaltene Opposition kann das Internet junge Menschen zusammenbringen und sie inspirieren. Menschen aus verschiedenen Regionen und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen. Deswegen muss die Opposition lernen, das Internet besser zu verstehen und einzusetzen, um die künftige Elite von Belarus zu erreichen.
In den vergangenen Jahren seit den Präsidentschaftswahlen ist die Jugend von der Parteiopposition häufiger dafür kritisiert worden, nicht-politisch zu sein. Wie äußern junge Belarussen ihre „politischen Meinungen“ und was bedeutet es für sie, politisch zu sein?
Die Mehrheit junger Belarussen ist in einer Grauzone aktiv, die nicht immer sichtbar ist oder von der parteipolitischen Opposition verstanden wird. Nur wenige Jugendliche sind direkt politisch aktiv, sowohl auf oppositioneller als auch auf staatlicher Seite. Das gilt nicht als cool oder attraktiv. Deswegen hat sich aber eine aufregende und vitale Jugendszene entwickelt, die eine Alternativ- und Undergroundkultur produziert, in Wohnheimen, Clubs, informellen Gruppen, Künstlergemeinschaften und eben dem Cyberspace.
- Weiterlesen: Ein Text von Iryna Vidanava über die Kreative Opposition in Belarus in englischer Sprache (pdf-Datei).