Georgien

Zeugnisse von Gewalt und Willkür

Flüstern kann zwei Ursachen haben: Furcht vor Repression oder Verrat. In der Geschichte der Sowjetunion wurde den Menschen das Flüstern zur Gewohnheit – aus dem einen sowohl als aus dem anderen Grund. Wie es sich damit im einzelnen verhielt, versucht das neue Buch des englischen Historikers Orlando Figes, Die Flüsterer, aufzuarbeiten. Dabei wird deutlich, dass die Geschichte der Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg vor allem eine individuelle Leidensgeschichte war.



Orlando Figes. / Copyright © Orlando Figes, Berlin Verlag

Schon vor Stalins Machtergreifung bekämpften die Bolschewiki Familien und andere traditionelle Gesellschaftsstrukturen, die nicht zum Ideal einer „kollektiven Persönlichkeit“ passten. Von der Ideologie beeinflusst, opferten viele Menschen ihr persönliches Glück und ihre Familienzugehörigkeit, um der Arbeiterklasse zu dienen. Nach vorsichtigen Schätzungen waren von 1928, als Stalin die Parteiführung übernahm, bis zum Tod des Diktators 1953 ungefähr 25 Millionen Menschen Repressalien durch das Sowjetregime ausgesetzt.

Jelena Bonners wuchs in Leningrad auf. Ihre Eltern sah sie kaum, denn sie widmeten ihre gesamte Zeit der Parteiarbeit. Jelena lebte bei ihrer Großmutter, doch vermisste sie ihre Eltern sehr. Sogar den Sommerurlaub verbrachten sie getrennt. So wie Jelena erging es vielen Kindern von Parteiaktivisten. „Ich wurde schon in frühem Alter dazu angehalten, Unabhängigkeit zu beweisen und alles selbst zu erledigen“, erinnert sich Marxena Karpizkaja, die in Leningrad als Tochter hochrangiger Parteifunktionäre aufwuchs.



Valentina Kropotina (zweite von links) und ihre Schwester
(zweite von rechts) mit drei Cousins, 1939. /
Copyright © Orlando Figes, Berlin Verlag

Die Kollektivierung der Landwirtschaft war ein weiterer tiefgreifender Einschnitt in die jahrhundertealten Gesellschaftsstrukturen Russlands. Sie machte aus den russischen Bauern ein Volk von Nomaden. Ganze Bauernfamilien wurden verhaftet und deportiert, ihre Häuser in Brand gesteckt, Vieh und sonstiges Eigentum zwangskollektiviert. Als Klassenfeind auf dem Land galt der „Kulak“, ein „reicher“ Bauer, in Wirklichkeit meist die fähigsten und tüchtigsten Männer im Dorf. Millionen Menschen wurden infolge des ideologischen Terrors ihrer Heimat entrissen und zu Zwangsarbeit in die „Sondersiedlungen“ der Gulag geschickt.

Das „Umschmieden“ der Menschen nach sowjetischem Vorbild stellte alles auf den Kopf. Wer überleben wollte, versuchte, dem Sowjetkult zu huldigen und seine Loyalität dem Staat gegenüber zu beweisen. Das führte zu einer „Kultur“ der Denunziation, vor der selbst Blutsverwandte nicht verschont blieben. So zeigte Pawlik Marosow, ein fünfzehnjähriger Junge, seinen Vater Trofim, einen fleißigen Bauern, bei der örtlichen Miliz als „Kulaken“ an. Die Sowjetpropaganda stilisierte Pawlik zum mustergültigen Pionier, den bald jedes Kind im Land kannte. Sein Vater Trofim wurde zu Arbeitslager verurteilt und später erschossen.



Verbannte in einer Sondersiedlung in Westsibirien 1933. /
Copyright © Orlando Figes, Berlin Verlag 

Die Menschen gewöhnten sich an ein Leben wie unter Feinden, die man ständig fürchten muss. Wurden Verwandte oder Bekannte verhaftet, geriet man selbst in den Verdacht, nicht wachsam genug zu sein oder gar deren „volksfeindliche“ Einstellung zu teilen. Viele hassten das Sowjetsystem heimlich und versuchten zugleich, ihre Ablehnung durch besondere Hingabe an die sowjetische Sache zu überwinden. Doppelleben wurden zur Normalität. In den engen und überfüllten Gemeinschaftswohnungen war die Nähe besonders bedrückend.

Der Filmregisseur Rolan Bykow wuchs als Kind in den dreißiger Jahren in einer Gemeinschaftswohnung auf. Er erinnert sich, dass man versucht habe, jedes Zeichen von Individualität auszulöschen. Die Enge dieser Lebensumstände formte viele Bewohner. Kinder gewöhnten sich an die kollektiven Gepflogenheiten und Eltern verloren die Kontrolle über die Erziehung ihrer eigenen Sprösslinge. Vorsicht, Selbstkontrolle und Anpassung waren stets angebracht.


Über den Autor: Orlando Figes, geboren 1959 in London, englischer Historiker und Experte für russische Geschichte, lehrt Geschichte am Birkbeck College in London. Sein Standardwerk „Die Tragödie eines Volkes“ (1998) über die russischen Revolutionen erhielt mehrere Auszeichnungen.


Orlando Figes’ Buch Die Flüsterer bildet ein starkes Gegengewicht zum Optimismus heutiger Lehrbücher über die Sowjetgeschichte, weil es sich am Innenleben gewöhnlicher Familien und Individuen orientiert. Hier sprechen die Opfer, die Verurteilten, die Ermordeten und Geschädigten und ihre Nachkommen, die mit dem Stigma der sowjetfeindlichen Herkunft leben mussten. In ihren Tagebüchern, Korrespondenzen und besonders in den Hunderten Interviews mit Zeitzeugen und ihren Nachfahren, die Figes und seine Mitarbeiter geführt haben, erzählen sie die unendlichen Geschichten ihres Leids und der Gewalt in Stalins Russland.

Viele Wellen von Massenverhaftungen waren bereits über das Land gegangen, als schließlich der Große Terror einsetzte. Im Jahr 1937 war Stalin überzeugt, dass der Sowjetunion ein Zweifrontenkrieg mit Hitlerdeutschland und Japan bevorstand. „Unsere Feinde aus den kapitalistischen Kreisen sind unermüdlich. Sie infiltrieren alles“, hatte Stalin schon 1935 dem Schriftsteller Romain Rolland gesagt. Mit dem Großen Terror wollte er jegliche potenzielle Opposition im Land vernichten, um für den Krieg mit den Faschisten keine Spione und Feinde in den eigenen Reihen fürchten zu müssen. In den beiden Jahren 1937 und 1938 wurden mindestens 681.692 Personen wegen angeblicher „Staatsverbrechen“ erschossen.

Der Große Terror brachte das Sowjetvolk endgültig zum Schweigen. Ein unbedacht geäußertes Wort genügte, um wegen „Volksverbrechen“ zu Lagerhaft oder zum Tod durch Erschießen verurteilt zu werden. Automatisch galt die Familie des Verhafteten als mitschuldig, denn wenn sie ihn nicht angezeigt hatte, war davon auszugehen, dass sie ihn unterstützte. Und es konnte jeden treffen. Aus Furcht vor behördlichem Druck, aber auch aus egoistischem Streben nach dem persönlichen Vorteil leiteten viele Menschen Informationen über Nachbarn und Kollegen an die Behörden weiter oder arbeiten als Spitzel in Fabriken und Gemeinschaftswohnungen.

Zur Rechtfertigung seines Handelns erklärte ein Betroffener später: „Wir glaubten, dass wir es tun mussten… Alle schrieben…“ Andere, die von der Unschuld ihrer als „Volksfeinde“ verhafteten Angehörigen überzeugt waren, vermuteten, dass der NKWD-Chef Jeschow ohne Stalins Wissen die Verhaftungen zu verantworten habe. Sie schrieben an Stalin: „Es muss sich um einen Irrtum handeln.“ Doch es passierte nichts und dann folgten weitere Verhaftungen und Ächtungen durch Verlust der Wohnung, des Eigentums, der Karriere und der sozialen Kontakte. Im selben Zeitraum wuchs die Zahl der Insassen von Arbeitslagern (Gulags) von 1.196.396 auf 1.881.570.

Die Gulags war weit mehr als Straflagerkomplexe. Sie gehörten zur Industriewirtschaft der Sowjetunion, denn dort arbeitete ein Riesenheer von Ingenieuren und Forschern mit der Möglichkeit, beruflich aufzusteigen. Doch das waren Ausnahmen, für die meisten Insassen bedeutete der Gulag Entbehrung, Gewalt und Tod. Die persönlichen Zeugnisse in Die Flüsterer geben ein wahrhaftes Spiegelbild der Sowjetunion unter Stalin. Diese geschichtsarchäologische Meisterleistung ist auch der Versuch, das stalinistische Phänomen über einen langen Zeitraum zu begreifen. Neben der unvorstellbaren Härte der Schicksale dieser Menschen lassen ihre Lebensgeschichten aber auch die große Willenskraft eines Volkes erahnen, das Jahrhunderte in Unterdrückung und individueller Unfreiheit verbracht hat. Auf jeder Seite des Buches ist zu spüren, dass die größte Herausforderung in Stalins Russland darin bestand, Mensch zu bleiben. Wie hoch der Preis ist, den Russland für seinen Weg durch die Geschichte zahlt, muss auf der Grundlage dieses Buches neu bewertet werden.


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