Polen

VON WARSCHAU NACH WESTERLAND

Wie Heinz Reinefarth, der „Mörder von Warschau“, Karriere in der Bundesrepublik machte (n-ost) – Am 1. August scheint Warschau einen Augenblick still zu stehen: Vor den zahlreichen Gedenktafeln in den Straßen legen Menschen Blumen nieder, und auf dem Powazkifriedhof leuchtet am Abend ein Kerzenmeer wie an Allerheiligen. Die Stadt gedenkt an diesem Tag des Warschauer Aufstands, der am 1. August 1944 begann. Die nationalpolnische Heimatarmee wollte die Hauptstadt noch vor dem Einmarsch der Roten Armee von der deutschen Besatzung befreien. Es sollte auch ein Zeichen gegen den Anspruch Stalins auf ein kommunistisches Polen zu sein. Der Versuch der Selbstbefreiung endete in einer Katastrophe. Da die erhoffte militärische Hilfe von der Roten Armee ausblieb, mussten die Aufständischen Anfang Oktober kapitulieren. Der 63-tägige Kampf kostete mehr als 150.000 Menschen das Leben. Die überlebenden Einwohner Warschaus wurden zur Zwangsarbeit deportiert und die Stadt auf Hitlers Befehl systematisch zerstört.
Gedenkmauer mit den Namen von fast 20.000 gefallenen Soldaten
FOTO: Agnieszka HreczukBesonders in den ersten Tagen der Erhebung verübten Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten zahlreiche Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Allein am 5. August ermordeten so genannte „fremdvölkische Verbände“ und eine Bewährungseinheit der SS in den Stadtteilen Ochota und Wola schätzungsweise 15.000 Zivilisten – Männer, Frauen, Kinder und Kranke in den Spitälern. Die Einheiten gehörten zur „Kampfgruppe Reinefarth“. Kommandeur des eilig zusammengestellten Verbands war der Höhere SS- und Polizeiführer Heinz Reinefarth. Er wurde von Himmler aus Posen nach Warschau beordert, um den Aufstand niederzuschlagen. Er wurde zum „Henker von Warschau“Bis Kriegsbeginn arbeitete Reinefarth als Rechtsanwalt. Erfahrungen als Befehlshaber bewaffneter Verbände hatte er bis zu seinem Einsatz in Warschau nicht. Dafür besaß er als langjähriges NSDAP- und SS-Mitglied das Vertrauen Himmlers. Er förderte Reinefarths Karriere, nachdem er 1942 kriegsverwundet aus der Wehrmacht ausgeschieden war. Binnen kurzer Zeit stieg er bis in die höchsten Ränge der SS auf. Unmittelbar vor dem Warschauer Aufstand ernannte Hitler ihn zum SS-Gruppenführer und Generalmajor der Polizei. Reinefarth war Himmlers williger Vollstrecker. Der Reichsführer-SS hatte befohlen, in Warschau Aufständische und Zivilisten unterschiedslos zu ermorden. Am 5. August unterrichtete Reinefarth Nikolaus von Vormann, Oberbefehlshaber der bei Warschau stationierten 9. Armee, dass seine Kampfgruppe mehr als 10.000 Menschen erschossen hätte. Doch mit dem Morden gab es Probleme: „Was soll ich mit den Zivilisten machen? Ich habe weniger Munition als Gefangene“, meldete Reinefarth dem Wehrmachtsgeneral. Als seine Vorgesetzten erkannten, dass die marodierende Truppe die Kampfmoral bedrohte und den Widerstand der Aufständischen verstärkte, wurden die Massaker an den Zivilisten unterbunden.
Zur Erinnerung an die Toten des Warschauer Aufstandes
FOTO: Agnieszka HreczukFür seinen Einsatz in Warschau erhielt Reinefarth das Eichenlaub zum Ritterkreuz, eine der höchsten militärischen Auszeichnungen des „Dritten Reichs“. Derart „bewährt“, ernannte ihn Hitler im Januar 1945 zum Kommandanten der „Festung Küstrin“. Reinefarth verweigerte jedoch den unsinnigen Befehl, die Stadt an der Oder gegen die Übermacht der Roten Armee zu verteidigen, und floh mit seinem Stab nach Westen. Das daraufhin eingeleitete Kriegsgerichtsverfahren blieb folgenlos; Reinefarth geriet Anfang Mai 1945 in britische Kriegsgefangenschaft. Die polnischen Behörden forderten von den Briten die Auslieferung des „Henkers von Warschau“, doch der beginnende Kalte Krieg bewahrte Reinefarth vor einem Prozess in Polen. Während die meisten prominenten SS-Führer nach 1945 die Öffentlichkeit mieden und ihre zweite Chance in der Wirtschaft suchten, strebte Reinefarth in die Politik. Als Mitglied des „Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) wurde er 1951 zum Bürgermeister von Westerland auf Sylt gewählt. Für die selbsternannte Interessenvertretung der Kriegsverlierer, die ab 1952 unter dem Namen „Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (GB/BHE) firmierte, war er auch im Landesverband von Schleswig-Holstein aktiv. Im nördlichsten Bundesland, wo der Bevölkerungsanteil der Flüchtlinge und Vertriebenen besonders hoch war, hatte die Partei ihre Machtbasis. Bei den Landtagswahlen 1950 erhielt der BHE mehr Stimmen als die CDU. Konsequenter noch als andere Parteien forderte der BHE ein Ende der Entnazifizierung. Ende der 50-er Jahre geriet Reinefarth ins Visier der antifaschistischen Kampagnen der SED. In der DEFA-Dokumentation „Urlaub auf Sylt“ klagten ihn die Filmemacher Annelie und Andrew Thorndike 1957 als einen der „übelsten Nazi-Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik“ an. Die Volksrepublik Polen forderte ebenso öffentlichkeitswirksam wie vergeblich die Auslieferung Reinefarths: Die Bundesrepublik übergab ihre Bürger nicht an Ostblockstaaten, zu denen sie keine politischen Beziehungen unterhielt.Aufgrund des öffentlichen Drucks leitete die Staatsanwaltschaft Flensburg ein Ermittlungsverfahren gegen Reinefarth ein. Es wurde noch vor der Landtagswahl 1958 eingestellt. Auf der Landesliste des GB/BHE zog Reinefarth als Abgeordneter in den Kieler Landtag ein. Zeitweilig war er als Amtschef im Innenministerium im Gespräch.Reinefarth bestritt die gegen ihn erhobenen Vorwürfe und schob die Schuld an den Verbrechen anderen zu. Volle Unterstützung erhielt er von Hans-Adolf Asbach, dem Landesvorsitzenden des GB/BHE und Arbeitsminister von Schleswig-Holstein. Asbach war während es Zweiten Weltkriegs Kreishauptmann im besetzten Polen gewesen.Doch auch im „braunen Naturschutzgebiet“ (Die Zeit) Schleswig-Holstein war die Schonzeit für NS-Größen vorbei. Aufgrund neuer Erkenntnisse des Historikers Hanns von Krannhals, der anhand von Dokumenten die Verantwortung Reinefarths für die Massaker in Ochota und Wola nachweisen konnte, nahm die Staatsanwaltschaft abermals Ermittlungen auf. Die Verleumdungsklagen, die Reinefarth gegen Krannhals und andere anstrengte, verschafften seinem Fall nur noch mehr Aufmerksamkeit. Reinefarths Vergangenheit war für den Ministerpräsidenten Kai-Uwe von Hassel zu einer Belastung geworden. Der GB/BHE gehörte mit der FDP zu den Koalitionspartnern der CDU. Der Landtag hob 1961 schließlich Reinefarths Immunität als Abgeordneter auf; zwei Jahre später trat er als Bürgermeister von Westerland zurück. Für die Verbrechen in Warschau musste er sich jedoch nicht verantworten. Die Staatsanwaltschaft Flensburg stellte ihre jahrelangen Ermittlungen schließlich ein. Nach dem erzwungenen Rückzug aus der Politik arbeitete Reinefarth wieder als Rechtsanwalt. Der „Mörder von Warschau“ starb am 7. Mai 1979 in Westerland auf Sylt –  fast auf den Tag genau 34 Jahre nach dem Kriegsende.
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