Ein ständiges Kommen und Gehen
Der redselige Rentner in der süditalienischen Kaffeebar weiß genau Bescheid: „Ukrainer sind hier überall! Sie helfen auf den Baustellen, pflegen unsere Alten – das sind die Anständigen“. Einen Atemzug später schießt er den Giftpfeil ab: „Aber ich glaube, viele machen auch krumme Geschäfte“. Schnitt: Eine Bushaltestelle in einem Londoner Vorort. „Wie würden Sie Ihr Leben in zwei Sätzen beschreiben?“, fragt das Reporterteam eine erschöpfte Ukrainerin, die seit fünf Jahren illegal als Haushalthilfe in England arbeitet. „Mit zwei Worten? Sehr schwer“, antwortet die Mittvierzigerin – und wendet sich schnell ab, damit die Kamera ihre Tränen nicht sieht.
„Easy Answer“ heißt ein unabhängiger Dokumentarfilm, der momentan im Internet zirkuliert und sich der Frage widmet, warum Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen. Drei Monate lang sind die Filmemacher mit dem Auto durch 26 Länder Europas gefahren, haben mit Putzfrauen in Berlin und Erntehelfern in Spanien gesprochen, mit Altenpflegerinnen in Griechenland und Bauarbeitern in London. Warum sind diese Menschen bereit, sich selbst aufzugeben, um in der Fremde wahlweise als Sklaven oder Gangster wahrgenommen zu werden? In dem Film bekommen die Unsichtbaren Gesichter. Die sonst Stummen geben scheinbar „einfache Antworten“: Weil es zuhause keine Arbeit, keine Hoffnung gab. Weil man mit 150 Euro Rente nicht weit kommt. Weil sie ihren Kindern und Angehörigen ein besseres Leben ermöglichen wollen.
Zur Arbeit gen Westen: Wartende am internationalen Busbahnhof Kiew / Inga Rasyuk, n-ost
Der Preis dafür ist hoch: Familien werden auseinander gerissen. Zehntausende, wahrscheinlich sogar Hunderttausende Kinder wachsen bei oftmals überforderten Großeltern, Nachbarn oder Verwandten auf. Eine ganze Generation fühlt sich allein gelassen. Fehlende Liebe und Zuwendung wird mit Geld kompensiert. Eltern, die im Ausland arbeiten, sind leicht erpressbar. Kinder lernen das schnell. Teure Markenklamotten und die neusten Handys gegen seelische Narben. Manche Kinder schotten sich von der Außenwelt ab, andere werden aggressiv. Wieder andere suchen sich auf der Straße die Zuwendung, die ihnen zuhause niemand bieten kann. Schuleschwänzen, Klauen, Klebstoff-Schnüffeln – die Kinder verlieren die Orientierung, nicht wenige landen dauerhaft auf der Straße. „Es ist paradox: Die Eltern wollen ihren Kindern eine gute Zukunft schenken und zerstören sie gleichzeitig“, beschreibt Andrij Waskowycz, Präsident von Caritas Ukraine, das Dilemma.
Die Weltbank hat errechnet, dass die Ukraine das Land mit der weltweit drittstärksten Auswanderung ist. Zwischen zwei und sieben Millionen Ukrainer arbeiten im Ausland, die meisten illegal. Mit 3,5 Millionen Job-Nomaden rechnet das ukrainische Arbeitsministerium. Genauer kann es niemand sagen. Kein Wunder: Das Phänomen ist äußerst vielschichtig: Da sind offizielle Auswanderer. Die Saisonarbeiter, ohne die Spaniens Erdbeeren an den Sträuchern verfaulen würden. Die vielen Hunderttausend, die legal mit einem Besuchsvisum nach Europa reisen, dort bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, eine zeitlang schwarz als Haushaltshilfe arbeiten und zurückgehen – oder einfach dableiben. Dazu kommen deutlich mehr als eine Million Ukrainer (im Sommer sind es bis zu drei Millionen), die in Russland Arbeit finden. Das Nachbarland ist wegen der Visafreiheit, aber auch wegen der sprachlichen und kulturellen Nähe immer noch am populärsten.
Doch die Vorlieben der Migranten wandeln sich ständig. Man lebt vom Hörensagen. Die Pioniere berichten den zuhause Gebliebenen von Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten und holen Bekannte und Verwandte nach. So kommt es, dass sich selbst in weit entfernten Ländern wie Portugal inzwischen bedeutende ukrainische Auswanderer-Gemeinden gebildet haben. Wie stark die portugiesische Ukraine-Gemeinde ist, bewies sie eindrucksvoll beim Grand-Prix 2007, bei dem die Fernsehzuschauer per Televoting über den besten Song abstimmten. Aus Portugal gab es zwölf Punkte für den schrägen Beitrag des ukrainischen Trash-Sängers Verka Serduchka – die Höchstwertung. „Die meisten ukrainischen Arbeitsmigranten sind qualifizierte Kräfte aus den Bereichen Bau, Pflege und Hausarbeiten. Hochqualifizierte mit Fremdsprachenkenntnissen, Managementfähigkeiten oder internationalen Abschlüssen sind dagegen noch in der Minderheit“, weiß Tatjana Hadjiemmanuel vom Länderbüro Ukraine der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die unklaren Angaben über die Zahl der Migranten und die Art ihrer Tätigkeiten machen es allerdings schwierig, den Einfluss der Migration auf die ukrainische Wirtschaft zu beziffern.
Groben Schätzungen zufolge schicken die ukrainischen Arbeitsnomaden jährlich sechs bis zehn Milliarden Dollar nach Hause – das entspricht mehr als 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das meiste Geld fließt direkt in den Konsum oder wird für Immobilienkäufe und Bildung ausgegeben. Dem ukrainischen Staat ist das nicht unrecht, obwohl Politiker offiziell die wirtschaftlichen und demographischen Verluste durch den Exodus beklagen. Schwierig ist allerdings, dass höher qualifizierte Migranten im Ausland gering qualifizierte Arbeit annehmen und daheim als Fachkräfte fehlen. Brain drain ist auch ein ukrainisches Problem. Der Mangel an Fachkräften und Managementpersonal ist schon jetzt allerorten zu spüren. Seit einigen Jahren wächst die Wirtschaft mit robusten sieben Prozent.
In Kiew und der Westukraine werden sogar schon gering qualifizierte Kräfte knapp. Das führt zu kräftig steigenden Gehältern, die aber im Durchschnitt immer noch deutlich unter denen im Westen liegen. Die globalisierte Wirtschaft hat das längst erkannt: Italienische und auch deutsche Modelabels lassen ihre Entwürfe inzwischen von billigen Näherinnen in der Westukraine zusammennähen – der ärmsten Region des Landes mit bis zu 80 Prozent Arbeitslosigkeit. Dort werden „österreichische“ Skier produziert. Dort werden demnächst auch Gurken eingelegt, für die Hamburger einer weltweit agierenden Schnellimbisskette. Die Verträge sind schon unterschrieben. Auch deutsche Unternehmen nutzen diesen verkehrsgünstig gelegenen Teil der Ukraine bereits als verlängerte Werkbank. Selbst ohne EU-Ansiedlungssubventionen lohnt sich das. Fast alle großen deutschen Automobilzulieferer montieren in der Westukraine Stecker, Schalter und Kabelbäume. Einige Maschinenbauer stehen mit Plänen für neue Produktionsstätten in den Startlöchern.
Der wirtschaftliche Boom lockt inzwischen vermehrt Ukrainer zurück ins Land: Der Kinderarzt Jewgeni Kuralow (Name geändert) hat sein Land Mitte der 90er Jahre als jüdischer Kontingent-Flüchtling in Richtung Deutschland verlassen. Neun Jahre lang arbeitete er an der Düsseldorfer Uniklinik. Seine Frau lebt mit den beiden Söhnen immer noch dort. Sie besuchen das Gymnasium, wollen in Deutschland studieren. In Kiew leitet Kuralow seit kurzem eine moderne Privatklinik. Deren Klientel sind Ausländer und reiche Ukrainer. Dort trägt der 48-Jährige mehr Verantwortung – und verdient sogar mehr als in Deutschland. Für den Karrieresprung nimmt er das Pendler-Dasein in Kauf. Alle zwei Wochen fliegt er übers Wochenende nach Düsseldorf. Kuralow findet das ganz normal: „Deutsche Ärzte fliegen nach England, um Nachtdienste in Provinzkrankenhäusern zu schieben. Wenn ich in den Flieger steige, bin ich in zweieinhalb Stunden bei meiner Familie.“
Mit der Öffnung nach Westen verbessern sich für die Ukrainer die Informationsmöglichkeiten – nicht zuletzt über das Internet. Neue Perspektiven zum Weggehen tun sich auf. Aber auch zum Bleiben: In einem grauen Kiewer Trabanten-Stadtteil residiert der Computer-Spiele-Entwickler GSG Game World. Mit ihrem apokalyptischen Horror-Spiel „Stalker - Shadow of Chernobyl“ sind die jungen Leute zu echten global players im internationalen Computerspielemarkt aufgestiegen. Neben „Stalker“ wurde auch ihr Strategiespiel „Cossacks“ im Westen populär. Die aufwändigen Animationen programmieren ukrainische Spezialisten. Mit ihren 100 Mitarbeitern zählt GSG zu den führenden Spieleherstellern Osteuropas.
Chef ist der erst 29-jährige Sergeij Grigorowitsch. Der ukrainische Bill Gates zeigt seinen geschäftlichen Erfolg gern. In seiner Garage stehen elf Nobelkarossen. Ein Globalisierungsgewinner mit ukrainischem Pass. Und von denen gibt es immer mehr. Dies ist der Orangenen Revolution von 2004 zu verdanken. Sie markierte einen Wendepunkt. Plötzlich eröffneten internationale Firmen Büros und Niederlassungen in der Ukraine, in der Wirtschaft machte sich Goldgräberstimmung breit. Eine Welle des Optimismus’ erfasste das Land. „Die Leute hatten Hoffnung, dass sich für sie zuhause etwas zum Besseren ändern würde“, sagt Tatjana Hadjiemmanuel vom Kiewer IOM- Büro.
Viele bekamen tatsächlich eine Chance, mehr aus ihrem Leben zu machen. Doch inzwischen macht sich Enttäuschung bereit. Der Aufschwung kommt eben längst nicht bei allen an. Mittlerweile machen sich wieder mehr Ukrainer auf den Weg, um ihr Glück anderswo zu suchen. Wohin der Exodus das Land am Ende führt, ist ungewiss. Bis 2012 strebt die Ukraine die Visumsfreiheit für Reisen nach Europa an. Im gleichen Jahr will das Land – gemeinsam mit Polen – die Fußball-Europameisterschaft ausrichten. Experten entwerfen bereits folgendes, nicht unrealistisches Szenario: Wenn sich die Abwanderung von Arbeitskräften ungebremst fortsetzt, wird die Ukraine gezwungen sein, Zehntausende Chinesen ins Land zu holen. Irgendwer muss die Stadien, Bahnhöfe, Autobahnen und Hotels schließlich bauen.