Tschechien

RASEN BIS DER LEICHENWAGEN KOMMT

Der Tscheche als Rambo auf der Autobahn (n-ost) – Sonntagabend in Tschechien: Das halbe Land fährt vom Wochenendgrundstück heimwärts Richtung Prag. Das Wort „fahren“ trifft aber nur auf etwa 30 Prozent der Pkw-Lenker zu. Der große Rest rast. Wer auf der Autobahn das Tempolimit 130 einhält, ist in den Augen mancher Tschechen ein einziges Verkehrshindernis. Der Nachfolgende fährt, so dicht es geht, auf, betätigt gern Hupe und Lichthupe gleichzeitig. Überholt er dann, wirft er dem lahmen Deppen, hinter dem er hatte herschleichen müssen, wütende Blicke zu. In der Hauptstadt selbst wird keineswegs abgebremst: Allein im Mai dieses Jahres wurde an den Messstellen mehr als 1,2 Millionen Mal die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten.Tschechiens Autobahnen und Landstraßen sind ein gefährliches Pflaster. Die Zahl der Verkehrstoten liegt doppelt so hoch wie in vergleichbaren Ländern, etwa der Schweiz, den Niederlanden oder Schweden. Nur Portugiesen und Griechen, sagt eine EU-Statistik, fahren noch schlechter. Während fast überall in Europa trotz erhöhten Verkehrsaufkommens die Zahl der tödlichen Unfälle sinkt, ist davon in Tschechien nichts zu spüren. Die Regierung will das ändern und die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 halbieren. Doch Verkehrspsychologen winken nur milde lächelnd ab, wenn die Sprache auf die „Nationale Strategie für die Sicherheit im Straßenverkehr“ kommt. Diese Strategie wird ihrer Ansicht nach wie viele andere vor ihr an der Mentalität der tschechischen Autofahrer scheitern.Das Grundübel: Die meisten Verkehrsrowdys geben zu, dass sie sich nicht an die Regeln halten – aber es kümmert sie nicht. Rambo-Manieren auf der Straße sind absolut gesellschaftsfähig. Wer am Montag seinen Kollegen erzählen kann, wie er wieder am Radar vorbeigeflogen ist, kann sich allgemeiner Anerkennung sicher sein. Wenn er zudem zu berichten weiß, dass er selbst schwere deutsche Limousinen abgehängt hat, ist er ein Held. Jan Weinberger und Karel Schmeidler vom Zentrum für Verkehrsforschung in Brünn haben darüber bereits Anfang der 1990er Jahre in eine Studie geschrieben. Mit dem Abstand von 15 Jahren sagen sie: „Der Trend geht zu immer schlimmerem Rasen und zu völliger Rücksichtslosigkeit.“ Nur kurzzeitig, nach der Einführung einer Strafsünderkartei nach Flensburger Muster vor zwei Jahren, besserte sich das Verhalten der Autofahrer. Die Polizei begleitete die Aktion mit massiven Kontrollen. Doch dabei übertrieb sie gleich wieder. Schon für gemessene 53 Kilometer pro Stunde auf einer 50er Strecke wurden Autofahrer finanziell kräftig abgestraft und mit Punkten belegt. Sofort beschwerte sich die Autofahrerlobby lautstark bei der Regierung. Der Strafkatalog sei aufgezwungen, fehlerhaft, absurd und ungerecht. Er könne „schlichtweg nicht ernst genommen“ werden. Die Politiker ließen sich nicht lange bitten. Schließlich sitzen im tschechischen Parlament und in der Regierung die größten Rowdys. Keine Woche vergeht, da nicht Politiker von Zeitungsredaktionen bei Verkehrssünden ertappt werden. Premier Mirek Topolanek fuhr jüngst auf der Autobahn Prag-Brünn statt erlaubter 130 km/h mit Tempo 200. Er redete sich mit einem „wichtigen Termin“ heraus. Topolanek war auf dem Weg zu einem Fußball-EM-Gruppenspiel der Tschechen in der Schweiz. Das Parlament hat mittlerweile dem Druck der Autolobby nachgegeben und die Punkteregelung verwässert. Immer wieder gibt es dort auch Anläufe – völlig gegen den europäischen Trend – die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu erhöhen, von 130 auf 160 Kilometer pro Stunde. Doch weder der schlechte Zustand der meisten Autobahnen noch die Fahrkünste vieler Tschechen rechtfertigen das. „40 Prozent der Autofahrer müssen als unerfahren eingestuft werden. Sie fahren im Jahr weniger als 5 000 Kilometer“, sagen die Verkehrsexperten Weinberger und Schmeidler. Vor allem junge Autofahrer überschätzen sich immer wieder. „Obwohl die Unfallhäufigkeit die in der EU deutlich überschreitet, verdrängen tschechische Autofahrer die Möglichkeit, dass sie auch selbst betroffen sein könnten. Ich doch nicht, lautet die allgemeine Überzeugung“, so Weinberger und Schmeidler. Auch von saftigen Strafen lassen sich die wenigsten abschrecken. Die schlimmsten Autofahrer gehören der Statistik nach zu den Besserverdienenden. Die zahlen die Geldbußen grinsend und rasen weiter. Die allgemeine Raserei hat zudem eine neue Spezies von Autofahrern hervorgebracht – diejenigen, die meinen, Hilfspolizei spielen zu müssen. Das sind Autofahrer, die gezielt aus einer Kolonne ausscheren, um heranfliegende Raser auf der linken Spur auszubremsen. Gern verhindern die Hilfssheriffs auch das Funktionieren des Reißverschlussprinzips vor Einengungen. Wer allerdings meint, das Rowdytum stecke den tschechischen Autofahrern unausrottbar in den Genen, der irrt sich. Die können nämlich auch ganz anders. Auf deutschen Straßen fahren Tschechen vorbildlich, achten strikt auf die Tacho-Nadel, halten sich an das Rechtsfahrgebot und betätigen beim Spurwechsel sogar den Blinker, was ihnen auf einheimischen Straßen nicht im Traum einfallen würde. Der Grund liegt auf der Hand: Die Euro-Scheine sind ihnen  einfach zu wertvoll, um sie bei einer deutschen Verkehrskontrolle zu loszuwerden.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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