Polen

WAR STALIN AN ALLEM SCHULD?

Polnische Historiker streiten über die Verantwortung für die Vertreibung der Deutschen(n-ost) – Wenn Historiker öffentlich streiten, dann geht es nicht um Deutungen der Vergangenheit, sondern um Konflikte der Gegenwart. Das gilt auch für die Kontroverse, die seit einigen Wochen durch die polnischen Medien wogt und inzwischen in Deutschland angekommen ist. Ausgelöst hat sie der Historiker Bogdan Musial, der als Kritiker der ersten Wehrmachtsausstellung bekannt wurde. In einem Artikel der führenden konservativen Tageszeitung „Rzeczpospolita“ beschuldigte er den Warschauer Zeithistoriker Wlodzimierz Borodziej, Polen einseitig für die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich zu machen und damit indirekt ein Parteigänger von Erika Steinbach zu sein, der Präsidentin vom Bund der Vertriebenen (BdV). Borodziej gehört zu den renommiertesten polnischen Historikern und ist auch in Deutschland durch eine Reihe von Arbeiten bekannt, unter anderem über den Warschauer Aufstand von 1944. Mit seinem deutschen Kollegen Hans Lemberg leitete Borodziej Ende der neunziger Jahre ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Deutschen in Polen von 1945 bis 1950. Darin wird anhand von mehr 1.300 Quellen aus polnischen Archiven das Schicksal der Deutschen dokumentiert. Die vierbändige Publikation, die auch in deutscher Übersetzung vorliegt („Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...“ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950.), soll ein Korrektiv sein zu einem ähnlich monumentalen Projekt aus den fünfziger Jahren. Diese vom Bundesministerium für Vertriebene initiierte achtbändige  „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ stützt sich ausschließlich auf Zeitzeugenberichte und bietet so ein einseitiges Bild der Ereignisse. Die von Borodziej und Lemberg betreute Publikation aus den neunziger Jahren ist ein Beispiel dafür, dass sich deutsche und polnische Historiker auch über die schwierigen und über Jahrzehnte hinweg propagandistisch verzerrten Aspekte der gemeinsamen Geschichte verständigen können. Den Konservativen in Polen, die seit Jahren gebetsmühlenhaft behaupten, die Deutschen sähen sich ausschließlich als Opfer von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, ist die Quellensammlung ein Dorn im Auge, belegt sie doch, wie polnische Behörden auf allen Ebenen am Exodus der Deutschen mitwirkten. Für Musial hingegen, der Borodziej nun kritisiert, ist ausschließlich Stalin für die Westverschiebung Polens und den damit verbundenen Bevölkerungstransfers verantwortlich. Die polnischen Kommunisten seien bloße Marionetten der Sowjetunion gewesen; von einer Verantwortung Polens für das Schicksal der Deutschen könne mithin keine Rede sein. Musial hält Borodziej vor, er verbreite „Thesen und Fälschungen der kommunistischen Propaganda aus der Zeit der Volksrepublik“ und bediene deutsche Interessen. Diese Vorwürfe schließen sich eigentlich aus: Das kommunistische Regime vor 1989 war alles andere als deutschfreundlich und ließ kaum eine Gelegenheit aus, um vor dem westdeutschen Revanchismus zu warnen.Die Polemik Musials, der lange als freischaffender Historiker arbeitete, bevor er im Institut des Nationalen Gedenkens eine Anstellung fand, ließe sich als Neid gegenüber einem erfolgreicheren Kollegen abtun. Geschmacklos sind Musials Attacken jedoch, da sie sich nicht nur auf Borodziej selbst, sondern auch auf dessen Herkunft zielen. Borodziejs Vater Wiktor gehörte zum diplomatischen Korps der Volksrepublik und arbeitete als Offizier für den kommunistischen Sicherheitsdienst. Musial unterstellt, dass Wlodzimierz Borodziej seine Karriere, die in den achtziger Jahren begann, allein politischer Protektion zu verdanken habe. Aus persönlichem Interesse blockiere er als einflussreicher und gut vernetzter Wissenschaftler eine schonungslose Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Pikant werden die Vorwürfe durch Musials eigene Biographie: Im ländlichen Südostpolen geboren, arbeitete er als Bergmann in Schlesien, wo er die Verfolgung der Solidarnosc in der Zeit des Kriegsrechts erlebte. Seine wissenschaftliche Sozialisation erlebte er in der Bundesrepublik, wo 1985 als Flüchtling politisches Asyl und später auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Der antikommunistische Furor prägt Musials Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg und der polnischen Nachkriegsgeschichte, die empirisch gründlich sind, aber bisweilen zweifelhafte Thesen enthalten. Musials Pamphlet löste unter polnischen Historikern eine Welle der Empörung aus. Die ehemalige Leiterin des Posener Westinstituts Anna Wolff-Poweska nennt Musials Artikel eine „Form der verspäteten Durchleuchtung in der Wissenschaft im schlimmsten Gossenstil“. Robert Traba, Leiter des Zentrums für Historische Forschungen an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, wirft Musial Schwarz-Weiß-Denken und eine Verzerrung der komplexen historischen Nachkriegssituation in Polen vor. In einem von mehr als fünfzig Wissenschaftlern unterschriebenen offenen Brief wird Musials Artikel als ein weiterer Angriff auf eine Person bezeichnet, die sich um die deutsch-polnischen Beziehungen bemüht. Die Affäre offenbart, wie tief gespalten die polnischen Medien und die Wissenschaft sind. Institutionen wie das Warschauer Aufstandsmuseum und das Institut des Nationalen Gedenkens werden von Konservativen dominiert. Medien wie die „Rzeczpospolita“ oder das notorisch deutschkritische Magazin „Wprost“ starten immer neue Kampagnen, die vor dem deutschen Geschichtsrevisionismus warnen und um Ausgleich bemühte Intellektuelle als deutsche Agenten diffamieren. Als langjähriger Vorsitzender der deutsch-polnischen Schulbuchkommission ist Borodziej so ins Visier der Konservativen geraten, die für den in den neunziger Jahren erzielten Ausgleich nichts übrig haben.Dass Musial, der für seine jüngste Arbeit über Stalins Kriegspläne auch vom DVU-Blatt „Nationalzeitung“ als „Tabu-Brecher“ gefeiert wird, 2004 Gastredner bei einer Gedenkveranstaltung des Bunds der Vertriebenen zum sechzigsten Jahrestag des Warschauer Aufstands war, scheint den Redakteuren der „Rzeczpospolita“ offenbar entgangen zu sein und ist doch nur konsequent. Schließlich bezeichnet auch die BdV-Präsidentin die Vertriebenen als Opfer von „Stalins harter Faust“.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


Weitere Artikel