STREIT UM IM „BOLEK“
Die mögliche Geheimdienst-Vergangenheit von Lech Walesa entzweit die polnische Gesellschaft(n-ost) – Nun ist das Buch endlich erschienen, über das ganz Polen seit Wochen spricht: „Der Sicherheitsdienst und Lech Walesa. Ein Beitrag zur Biographie.“ Geschrieben haben es die jungen Historiker Slawomir Cenckiewicz und Piotr Gontarczyk vom Institut des Nationalen Gedenkens, dem polnischen Pendant zur deutschen Birthler-Behörde. Was sie dem Gründer der Gewerkschaft Solidarnosc und Friedensnobelpreisträger vorhalten, war in der vergangenen Woche bereits als Vorabdruck in der konservativen Tageszeitung „Rzeczpospolita“ zu lesen: Die kommunistische Staatssicherheit habe Walesa im Dezember 1970 als Informellen Mitarbeiter angeworben, als der damals 37-jährige Elektriker nach Arbeiterunruhen in Danzig kurzzeitig inhaftiert war. Bis Mitte der 70er Jahre soll er unter dem Decknamen „Bolek“ über Kollegen aus der Leninwerft berichtet und dafür knapp 13.000 Zloty, das entsprach damals zwei Monatsgehältern, erhalten haben. Walesa bestreitet vehement, IM „Bolek“ zu sein und bezeichnet die Dokumente als Fälschung der Staatssicherheit.Die Vorwürfe gegen Walesa sind nicht neu. Bereits Anfang der 90er Jahre lösten sie eine schwere Regierungskrise aus, die schließlich zum Machtwechsel vom nationalkatholischen Lager zu den Postkommunisten führte. Die jetzige Debatte ist daher auch ein Stück Trauerarbeit der Rechten um eine verspielte Chance zur Aufarbeitung des Kommunismus.Die nach den ersten freien Wahlen 1991 gebildete Regierung von Premier Jan Olszewski wollte gründlich mit den personellen Altlasten der Volksrepublik aufräumen. Ende Mai 1992 legte der Innenminister Antoni Macierewicz dem Parlament eine Liste hochrangiger Politiker und Beamter vor, die für die kommunistischen Sicherheitsdienste gearbeitet hätten. Unter den 66 Personen befanden sich Außenminister Krzysztof Skubiszewski, Parlamentspräsident Wieslaw Chrzanowski und Staatspräsident Lech Walesa. Ob und in welchem Umfang sie für die Sicherheitsdienste tätig waren, konnte aufgrund der lückenhaften Akten nicht hinreichend belegt werden. Anders als in der DDR, wo Bürgerkomitees die Archive der Stasi sicherten, vernichteten in Polen die Sicherheitsorgane große Teile ihrer Aktenbestände, bevor die demokratische Regierung die Macht übernahm. Der dilettantische Versuch einer radikalen Durchleuchtung („Lustration“) der politischen Elite endete für die nationalkatholische Regierung in einem Desaster. Auf Walesas Betreiben stürzte das Parlament Anfang Juni 1992 Premier Olszewski, der Mitglied der Zentrumspartei von Jaroslaw und Lech Kaczynski war. Die Zwillingsbrüder stehen ihrem einstigen Mentor seitdem mit herzlicher Abneigung gegenüber. Um zu verhindern, dass die Lustration zur politischen Waffe wird, blieben die Akten der Geheimdienste fortan unter Verschluss. „Die Hölle der Archive“, so Adam Michnik, Herausgeber der liberalen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, sollte möglichst für immer versiegelt werden. Das Lustrationsdebakel ebnete den Postkommunisten 1993 den Weg zurück an die Macht. Ein Gesetz zur Überprüfung hoher Staatsbeamter und Politiker konnte erst fünf Jahre später durchgesetzt werden.Im Buch von Cenckiewicz und Gontarczyk spielt der Sturz der Regierung Olszewski eine zentrale Rolle. Staatspräsident Walesa habe damals die ihn belastenden Akten an sich genommen und teilweise verschwinden lassen, so ihr Vorwurf. Die Lustration, der sich Walesa 2000 vor seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur unterziehen musste, sei daher eine Farce gewesen. Das Gericht, das Walesa vom Vorwurf der Spitzeltätigkeit freisprach, stützte sich auf die verbliebenen Akten der Sicherheitsdienste, die im Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) verwahrt werden. Das IPN ist Archiv- und Forschungsstelle, Staatsanwaltschaft und politischer Bildungsträger. Seit dem Doppelsieg der Brüder Kaczynski bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst 2005 wird die vergangenheitspolitische Superbehörde von Konservativen dominiert. Die Kaczynskis fordern eine radikale Aufarbeitung der Vergangenheit. Für sie besteht kein Zweifel daran, dass Walesa IM „Bolek“ war. Der erste Staatspräsident des freien Polens sei daher von postkommunistischen Seilschaften erpressbar gewesen und unfähig zu einem wirklichen Neuanfang.Kritik müssen sich Cenckiewicz und Gontarczyk derweil von ihren Kollegen anhören. So wirft Andrzej Friszke, ein renommierter Zeithistoriker Polens, ihnen einen allzu leichtfertigen Umgang mit den Akten der Staatssicherheit vor. Aber auch im eigenen Haus gibt es Widerstand gegen die Arbeit von Cenckiewicz und Gontarczyk. Die Vizepräsidentin des IPN, Maria Dmochowska, entschuldigte sich in einem offenen Brief bei Lech Walesa für die von ihren Mitarbeitern erhobenen Vorwürfe. Dmochowskas Vorgesetzter Janusz Kurtyka dagegen verteidigt die Publikation, für die er das Vorwort geschrieben hat. Die Affäre um IM „Bolek“ entwickelt sich so zu einer Zerreißprobe für ein Institut, das seit seiner Gründung 2000 gleichermaßen von den Befürwortern einer radikalen Aufarbeitung der Vergangenheit und den Anhängern des „dicken Schlussstrichs“ kritisiert wird. Die Polen sind des Streits um die Vergangenheit ihres ehemaligen Präsidenten längst überdrüssig. Nach neuesten Umfragen glauben 43 Prozent von ihnen nicht, dass Walesa IM „Bolek“ war. Das Interesse an dem fast 800-seitigen Werk, das das Gegenteil beweisen will, ist dennoch enorm. Die erste Auflage ist bereits ausverkauft. Das Institut des Nationalen Gedenkens rechnet damit, insgesamt 40.000 Exemplare zu verkaufen. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0