GRÖSSTER GEWERKSCHAFTSPROTEST SEIT 1989
In Tschechien legen mehr als eine Million Menschen das Land lahm und protestieren gegen die Reformpolitik der Regierung lahm(n-ost) – Für eine Stunde standen die Züge still, in den Großstädten fuhren weder Straßenbahnen, Busse noch Taxis, die Krankenhäuser verrichteten nur Notdienste. Die Postschalter waren zugesperrt, die Schulen schickten die Kinder vorfristig nach Hause, in zahlreichen Betrieben standen die Bänder still. Bauern blockierten in Prag eine Hauptverkehrsader – in Tschechien ging am Dienstag nicht mehr viel. Die Gewerkschaften (CMKOS) hatten zur größten Aktion seit der politischen „Wende“ 1989 aufgerufen. Mehr als eine Million Menschen, so CMKOS-Chef Milan Stech, folgten ihnen. Im Grunde war es ein politischer Streik, denn er richtete sich gegen die Reformen der Regierung aus Konservativen, Christdemokraten und Grünen. Die bemüht sich darum, das Land in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums für die Zukunft fit zu machen. Tschechien hat ähnlich wie viele andere entwickelte Länder ein massives demografisches Problem. Deshalb, so die Regierung, müssen die Sozialsysteme reformiert werden. Für die Gewerkschaften sind das schlicht „Exzesse“, wie es Stech vor Mitarbeitern der Prager Metro formulierte. Stech ist im Nebenjob Senator für die oppositionellen Sozialdemokraten, was bei vielen Beobachtern Fragen nach der Überparteilichkeit der Gewerkschaften aufwirft.Am schwersten wiegen die Probleme im Gesundheitswesen. Die Tschechen waren nur schwer davon zu überzeugen, dass die Zeiten vorbei sind, da alles zum Nulltarif zu haben war. Pro Besuch beim Arzt sind nun 30 Kronen fällig, etwas mehr als ein Euro. Für bestimmte Medikamente muss zugezahlt werden. Doch die Summen halten sich im Vergleich zu deutschen Verhältnissen in einem engen Rahmen.Außerdem gibt es mittlerweile reichlich Ausnahmen. Die Zahl der Leute, die tatsächlich etwas bezahlen müssen, wird immer kleiner. Darauf haben vor allem die Christdemokraten gedrängt, die sich in der Regierung gern das Mäntelchen des sozialen Gewissens umhängen. Sie bereiten sich auf diese Weise schon auf einen möglichen Regierungswechsel nach den nächsten Wahlen vor. In den Umfragen liegen die Sozialdemokraten zehn Prozentpunkte vor den regierenden Konservativen. Es gibt einen starken Flügel bei den Christdemokraten, der zu den Sozialdemokraten tendiert.Die Gesundheitsreform ist jüngst auch vom Verfassungsgericht ausgebremst worden. Das kippte die Regelung, wonach es für die ersten drei Tage nach einer Krankschreibung kein Krankengeld mehr geben sollte. Sehr zum Unwillen der Regierenden, die sich ohnehin schwer tun, wirkliche harte Reformschritte durchzusetzen. Premier Mirek Topolanek etwa versprach unter dem Druck der Opposition, dass anders als ursprünglich geplant keine der Universitätskliniken privatisiert werden soll. Der Protest der Gewerkschaften richtete sich auch gegen die überfällige Rentenreform, die in diesen Tagen im Parlament behandelt wird. Wichtigste Änderung hier: die Tschechen sollen künftig erst mit 65 in Pension gehen. Einige Berufsgruppen genießen den Ruhestand jetzt schon mit 58 – ein Überbleibsel aus sozialistischen Zeiten. Die meisten Tschechen gehen mit 63 in Rente. Generell besser gestellt sind Frauen, die zwei oder mehr Kinder geboren haben. „Wenn die Regierung diese Reform nicht durch bekommt, hat sie ihren Sinn verloren“, warnte einen Tag vor dem Streik Arbeits- und Sozialminister Petr Necas. Seine Mahnung richtet sich in erster Linie an die wankelmütigen Abgeordneten des eigenen Lagers.Das Ausmaß des Protestes der Gewerkschaften ist umso bemerkenswerter, als die tschechischen Gewerkschaften nicht eben zu den kämpferischsten gehörten. Über Jahre haben die Dreierkonferenzen zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung relativ geräuschlos funktioniert, in denen auch über Löhne, Gehälter und soziale Leistungen verhandelt wird. Das hat sich aber mit dem Amtsantritt der Regierung Topolanek geändert. Der Premier selbst verließ erst kürzlich aufgebracht eine solche Sitzung, weil er sich von den Gewerkschaften erpresst fühlte. Dass die Lage gespannter als früher ist, hängt auch mit den steigenden Preisen für viele Waren und Dienstleistungen zusammen. Die Inflationsrate wird nur durch den stetig steigenden Kurs der Landeswährung Krone gedeckelt. Die meisten Zeitungen des Landes zeigten für den Ausstand am Dienstag wenig Verständnis. Ein Kommentator der Tageszeitung Lidove noviny etwa bezog sich auf Forderungen der Gewerkschaften bei der Volkswagen-Tochter Skoda, so entlohnt zu werden wie die Kollegen in Deutschland. „Denken die allen Ernstes, dass sie dann auch weiterhin nur einen Euro für den Arztbesuch bezahlen müssten“, fragte der Kommentator polemisch. Die Gewerkschafter sollten sich besser kundig machen, was man beispielsweise in Deutschland beim Arzt zahlen müsse.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0