Tschechien

WAS HAT PRAG GEGEN DEN VERTRAG VON LISSABON?

Tschechien reibt sich über das Nein der Iren die Hände(n-ost) – Während nahezu ganz Europa nach dem Nein der Iren einen Weg zur Rettung des EU-Reformvertrages von Lissabon sucht, reibt man sich in Prag die Hände. Allein hätten die notorischen EU-Skeptiker um Präsident Vaclav Klaus kaum gewagt, das Projekt zu kippen. Dazu fehlt ihnen die Courage. Doch nun können sie sich hinter dem Votum der Iren verschanzen. Sollte Prag ebenfalls Nein sagen, wäre das wohl das Aus für den Vertrag von Lissabon. Klaus erklärte, Europa sollte den Iren dankbar sein für ihr Nein. Selbst Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, der Mitte des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, scheiterte bei einem Besuch an der Moldau mit dem Versuch, den Tschechen ein klares Bekenntnis zu Lissabon abzuringen. Wo liegen die Gründe für den tschechischen Widerstand?1. Vorbehalte gegen KompetenzverschiebungDie Abneigung namentlich von Vaclav Klaus gegen ein Europa, das vermeintlich die Nationalstaaten unterdrückt, ist nicht neu. Schon als Regierungschef wetterte er beispielsweise gegen die Entstehung von grenzübergreifenden Euroregionen.  Während etwa deutsche und polnische Vertreter in den Euroregionen weitreichende Kompetenzen hatten, mussten die tschechischen Vertreter jedes gemeinsame Projekt in Prag absegnen lassen. Dahinter stand unter anderem die Furcht, die nach dem Krieg vertriebenen Sudetendeutschen könnten über die Euroregionen Einfluss auf die Entwicklung in Tschechien nehmen.2. Vorbehalte gegen ein Mehr an GemeinschaftspolitikVöllig unannehmbar für den Klaus-Flügel ist auch eine gemeinsame EU-Außen- und Verteidigungspolitik. Als die tschechische Regierung – nicht einstimmig – Kosovo völkerrechtlich anerkannte wie die meisten anderen EU-Länder, äußerte der Präsident „Scham“ gegenüber dem Botschafter Serbiens. Dabei spielen die traditionell engen Beziehungen Prags zu den Balkan-Ländern eine Rolle. Widerstand regt sich auch in Sachen eines einheitlichen EU-Steuerrechts. Kein Wunder: das Land hat über viele Jahre mit Steuervorteilen westliche Investoren angelockt, die freilich für den Umbau der Wirtschaft unabdingbar waren.  Tschechien hat schließlich kein West-Tschechien, das Milliarden-Summen in die Entwicklung des Landes hätte stecken können.3. Vorbehalte gegen MehrheitsentscheidungenWie viele andere kleine EU-Staaten fürchtet Tschechien, bei wichtigen Entscheidungen innerhalb der Union einfach überstimmt zu werden. Deshalb möchte Prag das Einstimmigkeitsprinzip unter allen Umständen erhalten wissen, wohl wissend, dass man auf diese Weise Dinge blockieren kann. Aus der eigenen geschichtlichen Erfahrung heraus lehnt Prag beispielsweise eine Lockerung der EU-Blockade Kubas ab, wie sie Spanien und einige andere südliche Länder der EU vor allem aus wirtschaftlichen Interessen fordern. In Menschenrechtsfragen nimmt man es in Prag sehr genau – ein Erbe des Klaus-Vorgängers Vaclav Havel.4. Vorbehalte aus innenpolitischen Zwängen herausDie Regierung aus Konservativen, Christdemokraten und Grünen bröckelt. Das zeigte sich vor allem bei der Wahl des Präsidenten. Zahlreiche Christdemokraten und geschlossen die Grünen hätten lieber Klaus-Herausforderer Jan Svejnar zum neuen Staatsoberhaupt gekürt. Seither ist das Vertrauensverhältnis innerhalb der Koalition schwer gestört. Premier Mirek Topolanek konnte zu Beginn seiner Regierungszeit nur mit Hilfe zweier sozialdemokratischer Überläufer amtieren. Doch in Grundfragen wie der Gesundheitsreform ist diese Mehrheit brüchig. Keine Mehrheit gibt es derzeit auch für die Errichtung einer Radarstation für das amerikanische Raketenabwehrprojekt in Tschechien und Polen. Topolanek versucht hier, die Nein-Front der oppositionellen Sozialdemokraten aufzubrechen. Wenn diese die Radarstation unterstützen würden, könnten sich die Konservativen auch zu einem Ja zum Vertrag von Lissabon durchringen, sagt er. Die Sozialdemokraten lehnen das bislang strikt ab.5. Vorbehalte aus geschichtlicher ErinnerungTeile der politischen Elite in Prag denken bis heute verklärend an die Zeit der Tschechoslowakei zwischen den beiden Weltkriegen. Seinerzeit gehörte das Land in der Tat zu den Vorzeigestaaten des Kontinents, was Demokratie, aber auch wirtschaftlichen Wohlstand angeht. Man bezeichnete sich selbst gern als „zweite Schweiz“. Wirtschaftlich geht es dem Land auch heute glänzend. Die Landeswährung Krone gehört zu den Währungen auf der Welt mit dem größten Aufwertungspotenzial. Dass tschechische Exporteure wegen der teuren Krone zunehmend zusammenbrechen, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Über den Euro spricht man geringschätzig. Klaus wird nicht müde, der Gemeinschaftswährung den baldigen Kollaps vorauszusagen. Die Bemühungen, selbst der Euro-Zone beizutreten, halten sich sehr in Grenzen. Gleichzeitig sieht man mit gewissem Neid zu den einst ärmeren slowakischen Nachbarn, die Anfang kommenden Jahres den Euro einführen werden – rational ist diese Schizophrenie nicht zu erklären.6. Vorbehalte aus verletzter EitelkeitAnfang kommenden Jahres übernimmt Tschechien von Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft.  Würde der Lissabon-Vertrag zu diesem Zeitpunkt – wie ursprünglich beabsichtigt – ebenfalls in Kraft treten, wäre die tschechische Präsidentschaft in ihren Kompetenzen beschnitten. Es gäbe dann nämlich einen neuen Ratspräsidenten, der für zweieinhalb Jahre amtiert, einen Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik und einen europäischen diplomatischen Dienst. Prag möchte dem halben Jahr seiner Präsidentschaft aber einen eigenen Stempel aufdrücken. Vor allem Klaus – obwohl in einer mehr repräsentativen Rolle – sieht hier die Chance, sich persönlich noch mehr als bisher international zu profilieren. Lissabon würde seine ausgeprägte Eitelkeit empfindlich verletzen.Die größte Regierungspartei, die konservative ODS des Ehrenvorsitzenden Klaus, verschanzt sich aber nicht nur hinter dem aktuellen Nein der Iren, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Mit der ODS-Mehrheit hat der Senat, die zweite Kammer des Parlaments, den Vertrag von Lissabon an das in Brünn sitzende Verfassungsgericht verwiesen. Das soll überprüfen, ob das Dokument dem tschechischen Grundgesetz zuwider läuft. Klaus selbst hat in einem Brief an das Gericht den Vertrag von Lissabon verurteilt. Bis zum Spruch des Gerichts ist der Ratifizierungsprozess für den Reformvertrag auf Eis gelegt. Der Ausgang des Verfahrens ist äußerst ungewiss.Wie die meisten Tschechen über die EU und Lissabon denken, steht auf einem anderen Blatt. Der einstige Erweiterungskommissar und jetzige EU-Vizepräsident  Günter Verheugen hat die Tschechen zwar einst als die „größten EU-Skeptiker“ bezeichnet. Bemerkenswerterweise sind aber die Wähler und Anhänger der Klaus-Partei diejenigen, die am meisten von der EU halten und von ihr profitieren – ganz am Gegensatz zur Partei, die sie gewöhnlich wählen. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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