Im Schatten des Stahlwerks
Am Stadtrand wirkt Donezk, das Zentrum der ukrainischen Schwerindustrie, beinahe ländlich: Im Schatten des stinkenden Stahlwerks ducken sich niedrige Häuser hinter hohen Zäunen und dichten Hecken. Nur ein paar hundert Meter weiter ragen grüne Abraumhalden und rauchende Schlote in den Himmel. Plötzlich bremst Altenpflegerin Tatjana Rjanskaja ihren Laufschritt ab, schlüpft durch ein rostiges Stahltor. Sie steht in einem sonnendurchfluteten Hof. Irgendwo kräht ein Hahn. Über ihrem Kopf wächst wilder Wein. Die einfache Holztür zu Alexandra Ilinitschnas Wohnung steht weit offen, eine weiße Gardine verdeckt den Eingang. Dahinter erwartet die 83-Jährige ihre Besucherin. Zur Begrüßung umarmen sich die beiden Frauen liebevoll.
Alexandra Ilinitschna war Zwangsarbeiterin in Deutschland / Clemens Hoffmann, n-ost
Seit 2004 versorgen mit deutscher Hilfe ausgebildete Altenpflegerinnen ehemalige NS-Zwangsarbeiter und deren Angehörige in der ostukrainischen Millionenstadt. Derzeit kümmern sich vier von Deutschland bezahlte Pflegerinnen um 126 Patienten. Zu diesen Patienten gehört auch Alexandra Ilinitschna. Sie sitzt im Rollstuhl. Das silbrige Haar hat die alte Dame mit einem Haarreif nach hinten geschoben. Wegen ihrer Zuckerkrankheit ist ihr ein Bein amputiert worden. Ilinitschna ist fast blind, muss Insulin spritzen. Routiniert misst Tatjana, eine gelernte OP-Schwester, den Blutdruck, kontrolliert die Medikamentenschachteln auf dem Tischchen neben dem Bett. Dann zieht sie ein Päckchen Waschmittel aus der Tasche und stellt es in die Küche. Die alte Frau freut sich über das Geschenk – und über den Besuch: „Ich bin sehr dankbar, dass die Pflegerinnen von der Sozialstation kommen. Es ist gut, dass Deutschland ans uns denkt“, sagt sie.
Als sie 17 Jahre alt war, wurde Alexandra Ilinitschna als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Zuerst musste sie in einer Textilfabrik in Rees am Niederrhein arbeiten, dann hat sie in Gelsenkirchen Stacheldraht produziert. Nach der Bombardierung ihres Betriebs konnte sie fliehen, wurde schließlich von „guten Menschen“ als Haushilfe aufgenommen. In den letzten Kriegstagen lernte Alexandra Ilinitschna in Deutschland ihren künftigen Mann kennen, einen russischen Soldaten. 1947 gebar sie ihren ersten Sohn in Donezk, zwei Jahre später den zweiten.
Heute spricht Ilinitschna ohne Verbitterung über die schwere Zeit: Natürlich habe Nazi-Deutschland ihr vier Jahre ihres Lebens gestohlen. Aber die Entschädigung, die sie vor ein paar Jahren erhalten hat, sei für sie mehr als ein spätes Symbol gewesen: „Deutschland hat mir mehr Gutes getan, als die Ukraine für mein ganzes Berufsleben – immerhin 42 Jahre Arbeit“. Das Geld aus Deutschland ist aufgebraucht: Das meiste haben ihre Kinder und die Enkel bekommen. Für sich selbst hat sie nur etwas Geld für ihre Beerdigung und den Grabstein beiseite gelegt. Heute muss Alexandra Ilinitschna als Invalidin mit 989 Hrivna Rente im Monat auskommen, umgerechnet sind das 135 Euro. Doch sie beklagt sich nicht. Schließlich habe sie keine großen Bedürfnisse, kaufe nur Lebensmittel und ein paar Medikamente. Um so wichtiger ist für sie die Hauspflege nach deutschem Modell. Sie ermöglicht ihr einen Lebensabend in Würde. Doch in der Ukraine gilt diese Form der Altenpflege noch immer als exotisch.
Zwischenstopp im „Bochumer Haus“ in Donezk. Der ehemalige Kindergarten wurde mit Spenden aus dem evangelischen Kirchenkreis Bochum zur Sozialstation umgebaut. Die rüstigeren Alten kommen selber hierher, um sich untersuchen oder massieren zu lassen. Oder auch nur, um eine Tasse Tee zu trinken. Denn es geht um mehr als um Gesundheit: „Wir unterhalten uns mit ihnen, wir kochen für sie. Viele ziehen ihre besten Kleider an, wenn sie zu uns kommen. Für sie ist das wie auszugehen“, erzählt die Koordinatorin der Sozialstation, Ludmilla Pelich.
Doch die meisten heute noch lebenden NS-Opfer sind inzwischen alt und bettlägerig. Um ihnen gezielt zu helfen, wurden in den letzten Jahren im „Bochumer Haus“ mehrere Dutzend Ukrainerinnen zu qualifizierte Altenpflegerinnen ausgebildet. Ein Beruf, den es in der Ukraine so nicht gibt. Das Interesse an den Kursen war groß. Auch der städtische Sozialdienst schickte Mitarbeiter zur Qualifizierung – eine Chance, neue Formen der Altenpflege einzuführen. Doch die Hoffnung auf eine nachhaltige Entwicklung scheint vergeblich: Den meisten ukrainischen Städten fehle das Geld, um die ausgebildeten Fachkräfte auch einzusetzen, bedauert Stationsleiterin Ludmilla Pelich. So gebe es allein in einem Donezker Innenstadtbezirk 1.500 Pflegebedürftige auf Wartelisten, aber nur 16 ausgebildete Pfleger. Um den Mangel zu verwalten, werden zum Teil absurde Regelungen erfunden: Wer Familienangehörige hat, verliert sein Anrecht auf Betreuung durch die Kommune: „Selbst wenn der einzige Sohn Alkoholiker ist, und sich nicht kümmert, lehnen die Behörden Anträge ab“, weiß Ludmilla Pelich.
Die Lage in den öffentlichen Altenheimen sei ebenfalls katastrophal. Vielfach werde nur verwahrt, nicht wirklich gepflegt. Trotzdem gibt es auch hier lange Wartezeiten. Ein permanenter Pflegenotstand. Um diesen wenigstens ein bisschen zu lindern, hat die Sozialstation, die voraussichtlich noch bis 2011 von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wird, ihre Arbeit den sich wandelnden Verhältnissen angepasst: Wurden in den ersten Jahren nur ehemalige NS-Zwangsarbeiter betreut, kümmern sich die Pfleger nun zunehmend auch um deren Familienangehörige und um Kinder des Krieges. „Einige der NS-Opfer sind inzwischen leider verstorben. Wir haben jetzt diejenigen zu betreuen, die es brauchen“, stellt Ludmilla Pelich fest. Dazu gehört auch, die Angehörigen zu schulen. Da die Pfleger nicht den ganzen Tag bei den Patienten bleiben können, zeigen sie den Familienmitgliedern, wie sie einen Bettlägrigen richtig lagern, wie sie Verbände wechseln oder was bei der Körperpflege zu beachten ist.
Dass das Angebot kostenlos bleibt, hält Ludmilla Pelich für unentbehrlich. Die allerwenigsten könnten das Geld für die Pflege selbst aufbringen. Und im Gegensatz zu Geldleistungen sei die Pflege etwas, was den Alten niemand wegnehmen könne und was diese nicht weiterverschenken könnten. „Diese Hilfe kommt garantiert an“, versichert Pelich. Gerne würde die Sozialstation noch mehr Menschen helfen. Fast täglich gebe es Anfragen aus weiter entfernten Stadtbezirken. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt. Und die Entfernungen riesig. Fast 30 Kilometer dehnen sich die Donezker Zechensiedlungen von Nord nach Süd aus, 50 Kilometer sind es von West nach Ost. Mit Bus und Sammeltaxi, den einzigen Verkehrsmitteln der Altenpflege-Station, bräuchte man einen ganzen Tag, um einen einzigen Patienten am äußersten Stadtrand zu besuchen. Das können die Pfleger aus dem „Bochumer Haus“ nicht leisten. Ursprünglich wollte die Stadt Donezk in die Finanzierung einsteigen. Darauf wartet die Sozialstation bis heute.
Iwan Semonowitsch kann den Deutschen nicht vergeben / Clemens Hoffmann, n-ost
Iwan Semonowitsch und seine Frau Julia haben Glück. Die beiden über 80-Jährigen wohnen in einem bröckelnden Plattenbau im Zentrum und sind für Pflegerin Tanja gut zu erreichen. Bei ihnen ist am Morgen der Strom ausgefallen. Das Licht funktioniert nicht. So sitzt das alte Ehepaar im schummrigen Wohnzimmer. Die beiden sind froh über die Ablenkung, die ihnen der Besuch beschert. Als erstes wechselt Tanja heute den Verband an Iwans Hand. Er wurde vor kurzem operiert. Dann massiert sie seiner Frau Julia die schmerzenden Beine. Iwan, der als 16-Jähriger im Rheinland in Waggonbau-Betrieben als Zwangsarbeiter schuftete, leidet an Arterienverkalkung. Ein Raucherbein wurde dem ehemaligen Bergmann bereits amputiert. Seine Frau ist Diabetikerin. Sie sieht schlecht und hat zu hohen Blutdruck. Die Tochter der beiden wohnt ganz in der Nähe und bringt abends Lebensmittel, so können sich die beiden Alten noch selbst versorgen. Doch ohne die regelmäßigen Besuche der Pflegerin wäre das wohl kaum möglich.
Iwan spricht nicht gerne über die Zeit in Deutschland. Er sei viel geschlagen worden, habe kaum zu essen bekommen und sei als „Russenschwein“ beschimpft worden, presst er hervor. Mit leiser Stimme erzählt er, wie er sich bei einem Unfall mit einem Schweißbrenner am Kopf verbrannte und man ihm im Lager qualvoll die Hautfetzen vom Gesicht zog. „Nein, den Deutschen kann ich nicht vergeben“, sagt Iwan trotzig. Seine Frau Julia versucht, ihren Mann zu beruhigen. „So darfst Du nicht denken“, ermahnt sie ihn mit sanfter Stimme. Sie verrät, dass eine Nichte mit einem Deutschen verheiratet sei. Und die beiden öfters zu Besuch kämen.
Von der Entschädigung haben sich die Semonowitschs einen neuen Fernseher gekauft, ansonsten sind keine wertvollen Dinge in der Wohnung zu sehen. Das meiste Geld hätten sie für Medikamente ausgegeben, erinnert sich Julia: „Die Rente war damals sehr klein, das Geld aus Deutschland war eine große Hilfe. Inzwischen erhält Iwan für 41 Jahre Arbeit unter Tage und wegen seiner Behinderung 3000 Hrivna, umgerechnet 400 Euro. „Wir leben irgendwie“, sagt seine Frau. Dann schiebt sie ihren Mann im Rollstuhl aus dem dunklen Wohnzimmer auf den Balkon in die Sonne. Die Kastanien blühen. Auf der Schnellstraße vor dem Haus rasen Autos vorbei. Die Luft riecht nach Schwefel.