Tschechien

Zarte Bande der Wiedergutmachung

Stella Löblova hat eine Verabredung. Um 14 Uhr kommt Miriam. Die 20-Jährige ist fast jede Woche bei ihr. Mit ihr kann Löblova Deutsch reden, denn Deutsch ist ihre Muttersprache. „Meine Mutter ist in Dresden geboren. Wir waren eine gemischte Familie. Mein Vater war Tscheche, ihm zuliebe ist meine Mutter zum jüdischen Glauben konvertiert“, erzählt Löblova. Die Schilderung ihres Schicksals ist für sie wie eine Therapie. Und Miriam Gossen hilft ihr dabei. Sie ist eine von derzeit vier Freiwilligen, die über das von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mitfinanzierte Projekt „Lebendige Erinnerung“ (Ziva pamet) ehemalige NS-Opfer betreuen. „Ich habe sonst keinen, dem ich das erzählen kann“, sagt Stella Löblova. Manchmal hilft Miriam im Haushalt oder macht kleine Besorgungen.

Wenn schönes Wetter ist, gehen die beiden hinaus und setzen sich auf eine Bank. Aber meistens ist Miriam nur da, um zuzuhören.


Stella Löblova erzählt in ihrer Prager Wohnung / Martin Svozilek, n-ost

„Mit dem Mischlingstransport kam ich mit meinem Bruder nach Theresienstadt“, fängt Löblova an zu erzählen. „Das waren schlimme Bedingungen dort. Gleich zu Beginn erkrankte ich an Diphterie. Meine Sachen wurden durchsucht. Als sie mein Geld fanden, wurde ich eingesperrt und konnte mich gleich von meiner Krankheit ‚erholen’.“ Löblova lag in einer Einzelzelle – zusammen mit zehn anderen Gefangenen. Aber auch draußen war es eng. Bis zu 35 Personen seien sie in einem Zimmer gewesen und hätten ständig umziehen müssen. „Genauso war es mit der Arbeit“, erinnert sie sich. „Alle zehn Tage musste ich die Arbeit wechseln. Ich arbeitete in der Bäckerei, der Wäscherei, in der Landwirtschaft, als Transportgehilfin.“

Als Transportgehilfin begleitete Löblova die gesamte Familie ihres Vaters zum Transport nach Auschwitz-Birkenau, zuletzt auch ihren Bruder. „Das war das schrecklichste Erlebnis meines Lebens“, sagt sie. „Wir haben uns sehr geliebt, ich konnte nicht ohne ihn leben und habe mich freiwillig für den Transport nach Auschwitz gemeldet, aber sie haben mich nicht gelassen, weil ich als arbeitsfähig eingestuft wurde.“ Das Kriegsende erlebte Löblova in Theresienstadt. Ihr Bruder wurde von den Amerikanern in Buchenwald befreit, aber er war schon zu schwach, um zu überleben.

Der Vater starb an den Folgen der Zwangsarbeit.Miriam Gossen hat ihren Anteil daran, dass das Schicksal der heute 83-Jährigen nicht in Vergessenheit gerät. Sie hat die Geschichte von Stella Löblova aufgeschrieben und wird so im besten Sinne dem gerecht, was Tomas Jelinek als bleibende Aufgabe für die Zukunft sieht: „Wir sollten die Erinnerung an die Menschen und ihr Schicksal bewahren und ihr Vermächtnis weitergeben“, sagt der Geschäftsführer des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, der seit 2001 die Entschädigungen an tschechische Opfer des Nationalsozialismus auszahlte. Die deutsche Gesellschaft und die Industrie hatten das Geld in der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ bereitgestellt.

Vor einem Jahr hat die Stiftung ihre Aufgabe abgeschlossen. „Ob das ausreichend war, lässt sich nicht sagen. Im Prinzip ist es nie ausreichend. Aber es gibt nur eine Möglichkeit, nämlich den Menschen etwas zu geben, was ihr Leben verbessern kann. Und in der Hinsicht denke ich, hat Deutschland getan, was es tun konnte“, bewertet Oldrich Stransky die Entschädigung. Stransky, selbst ehemaliger Auschwitz-Häftling, war an den Verhandlungen um die Entschädigungszahlungen von Anfang an beteiligt. „Die Menschen, die Geld erhalten haben, sehen das als eine Geste, das Unrecht in gewisser Weise wieder gut zu machen“, so Stransky.

Für die meisten – wie für Stella Löblova – ist das Geld eine willkommene Aufbesserung ihrer ohnehin schmalen Rente. Aber der eigentliche Wert besteht in der Anerkennung dessen, was sie durch Deutschland erlitten haben. „Wenn man die Situation heute mit der vor zehn Jahren vergleicht, dann hat sich sehr viel bewegt. Neben der finanziellen Genugtuung führte die Auszahlung auch zu einer Verankerung der  Schicksale im Bewusstsein der Gesellschaft“, bilanziert Zukunftsfonds-Direktor Jelinek.

Die Entschädigungszahlungen haben die Opfer dem Vergessen entrissen. Zwangsarbeit stand oft im Schatten anderer Greueltaten des NS-Regimes und des aktiven Widerstands. Schon weniger bekannt war das Schicksal der Juden, die nicht nur vergast, sondern auch als Arbeitssklaven gehalten wurden. Oder das Schicksal der Zwangsarbeiter, denen im eigenen Land oft sogar Kollaboration vorgeworfen wurde. „Für die Opfer der Zwangsarbeit ist es heute normal, sich mit Schülern und Studenten zu treffen und auf ein großes Interesse in den Medien zu stoßen“, beschreibt Jelinek die Veränderung.Von Anfang an war die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus auch auf konkrete humanitäre Hilfe gerichtet. Dem Gedanken folgend, dass hinter jedem Antrag auf Entschädigung ein Menschenschicksal steht, ist das Projekt „Lebendige Erinnerung“ entstanden. Meret Brandner war von Anfang an dabei.

„Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft hat mit einer Anschubfinanzierung dafür gesorgt, dass das Projekt überhaupt zum Laufen kommt“, sagt die Schweizerin, die seit Anfang der 90er Jahre in Tschechien lebtInzwischen finanziert auch das tschechische Arbeitsministerium das Projekt mit. Es hat begonnen, die Erinnerungen der Menschen zu sammeln, sie zu veröffentlichen und in Zeitzeugengesprächen weiterzugeben. Im März 2007 wurde eine Beratungsstelle eröffnet, die ganz konkrete Hilfe im Alltag leistet. „Die Beratungsstelle hilft bei Anträgen, vermittelt auf Ämtern, gibt Rechtsberatung“, sagt Brandner und fügt begeistert hinzu: „Und seit Ende Mai haben wir unser neues Kontaktzentrum, da können sich die Leute einfach bei einem Kaffee treffen, sich am Computer weiterbilden.“ Einmal in der Woche findet eine kulturelle Veranstaltung statt. Auch das Erzählcafé hatte schon seine Premiere.

Dort erzählen Zeitzeugen Jugendgruppen aus Tschechien und Deutschland aus ihrem Leben. Und es gibt die Freiwilligen wie Miriam. Zurzeit sind es vier Jugendliche aus Deutschland, unter ihnen auch Franz Wöllert aus Cottbus. Er findet die Arbeit mit den älteren Menschen für beide Seiten fruchtbar: „Davon profitiert die ältere Dame oder der ältere Herr, weil es ihnen noch etwas Lebensqualität gibt, und auch ich als Freiwilliger. Ich lerne meine Geschichte besser kennen, aber nicht nur das, was in den Geschichtsbüchern steht, sondern das, was Menschen erzählen, so dass ich auch eine emotionale Komponente zum historischen Kontext hinzugewinne.“ Wöllert sieht sich als Botschafter. „Ich komme her, nehme etwas und gebe etwas zurück. Und genauso werde ich es machen, wenn ich wieder zurückkomme.“ Auch Franz schreibt die Erinnerungen der Menschen auf. Zumal es immer noch NS-Opfer gibt, die ihre Geschichte das erste Mal erzählen.

Franz hat das erlebt: „Er hat erzählt, dann hat er noch einmal angehalten, hat Luft geholt, dann hat er ein bisschen geschluchzt, dann hat er sich wieder ein Stück vorgewagt und dann wieder angehalten.“Wiedergutmachung ist ein solcher Prozess des Anhaltens und weiter Vorwagens. Sie zeigt sich in den zarten Banden zwischen zwei Menschen, deren Alter mehr als 60 Jahre auseinander liegt. Wenn Stella Löblova von Miriam Gossen erzählt, leuchten ihre Augen und sie ist wahrlich ein bisschen stolz auf sie. Die Visitenkarte mit dem Bild der lächelnden jungen Frau steckt in der Vitrine. Sie kann sie jederzeit anrufen. Aber sie weiß ja: Miriam kommt um 14 Uhr.


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