Ungarn

RETTUNG VOR DEM RUIN

In Budapests jüdischem Viertel kämpfen engagierte Bewohner um das historische Erbe(n-ost) – „Diese Straße ist ein trauriger Ort“, findet Katalin Gyárfás. Die Lehrerin für Judaistik deutet auf stark renovierungsbedürftige Jugendstilhäuser, die neben postmodernen Neubauten der Nachwendezeit in der Holló-Straße stehen. Nahezu zwei Weltkriege hat das historische jüdische Viertel in Budapest überstanden, jetzt sorgen Investoren für Zerstörung. Seit einigen Jahren verkauft die Bezirksverwaltung die Wohnhäuser im Jugendstil zu hohen Preisen an meistbietende Immobilienfirmen. Diese ignorieren den kulturellen Wert der meist im 19. Jahrhundert errichteten Gebäude und reißen sie lieber ab. Ihre mehrstöckigen Wohn- und Bürohäuser sorgen für Profit – bis zu 4.000 Euro kostet der Quadratmeter. Schrittweise ruinieren sie jedoch den einzigartigen Charakter des Viertels, in dem sich allein vier Synagogen und die Zentren der drei wichtigsten jüdischen Gemeinden in Ungarn befinden. In der Holló-Straße wird die Zerstörung des architektonischen Erbes besonders deutlich. Und hier beginnt auch die Geschichte des Vereins ÓVÁS!, „Einspruch!“, zu dessen Gründungsmitgliedern Gyárfás gehört. Als Reaktion auf den geplanten Abriss eines Jugendstilhauses gründeten acht Gleichgesinnte den Verein zum Erhalt des kulturellen und architektonischen Erbes des historischen jüdischen Viertels, dem sich bald Journalisten, Wissenschaftler, Künstler und Studenten anschlossen. Immerhin acht Gebäude konnte der Verein seit 2004 mit seinen Protesten vor den Abrissbirnen der Baufirmen retten. Zwar liegt das Viertel in der Pufferzone des Andrássy-Boulevards, der 2002 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurde. Doch reicht dieser Schutz nicht aus, Abrisse zu verhindern. Sicher sind nur die 51 Gebäude, die seit drei Jahren unter Denkmalschutz stehen. Seit Anfang des Jahres gilt ein Baustopp, bis ein neuer Sanierungsplan für das Viertel angenommen ist. Nur bereits begonnene Arbeiten dürfen fertig gestellt werden. Deshalb dröhnt der Baulärm aus vielen Hauseingängen. „Die Gebäude bewahren die Geschichten der Menschen, die dort gewohnt haben, die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in diesem Viertel“ sagt Gyárfás. Der Erhalt des Viertels ist ihr eine Herzensangelegenheit. Typisch für das Viertel waren die traditionellen jüdischen Handwerksbetriebe der zur unteren Mittelschicht gehörenden Anwohner. Buchläden, Druckereien, Hut- und Perückenmacher befanden sich nicht nur in den verwinkelten, engen Gassen des Viertels, sondern auch in den zahllosen Hinterhöfen die meist durch lange Durchgänge miteinander verbunden waren, um den gläubigen Juden den Weg zur Synagoge zu verkürzen. „Hier waren früher noch Geschäfte, Betriebe und Kaffeehäuser“, erinnert sich Gyárfás. „Sie sind zum größten Teil verschwunden.“  Heute gibt es noch ein paar jüdische Läden und Restaurants – und die jahrzehntelang einzige koschere Konditorei in Mittelosteuropa.Das Viertel ist aber auch ein Ort der Erinnerung an ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte. Acht Monate nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten im März 1944 errichteten die ungarischen faschistischen Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi ein Ghetto im historischen jüdischen Viertel, in das rund 70.000 Budapester Juden gesperrt wurden. Zsuzsanna Ágnes Berényi war ein kleines Kind als das Viertel zum Ghetto wurde. Die Gozsdu-Höfe, ihr damaliger Wohnsitz, werden derzeit von einem israelischen Topinvestor zum schicksten Ort des Viertels mit Luxuswohnungen, Geschäftsflächen und Wellness-Center umgebaut. Das Haus in der Király-Straße, in dem sich ihr Betrieb zur Herstellung von Anstecknadeln und Vereinsabzeichen befindet, soll verkauft werden. Deshalb streitet Berényi gerade mit der Bezirksverwaltung, „Der Familienbetrieb ist der erste seiner Art in Ungarn“, erzählt Berényi stolz, während ihr Blick über die Glasvitrinen mit den Anstecknadeln und Abzeichen schweift.Über die Zeit im Ghetto redet sie nur ungern. Zusammen mit Eltern und Großeltern bewohnte sie ein Zimmer, die weiteren Räume der Wohnung musste die Familie anderen ins Ghetto verschleppten Juden überlassen. Ihr Vater konnte aus dem Zwangsarbeitsdienst fliehen und lebte mit seiner Frau fortan im Versteck. „Oft kamen Soldaten vorbei und fragten mich, wo meine Eltern seien“, erzählt Berényi. Bis zur Befreiung durch die Rote Armee am 17. Januar 1945 starben zehntausende Juden durch Hunger, Seuchen, Kälte und die Erschießungskommandos der Pfeilkreuzler oder wurden in die Konzentrationslager deportiert. Mauern und Holzzäune mit Stacheldraht trennten die etwa 160 Häuser des Ghettos von der Außenwelt ab. „Das jüdische Leben, das es bis dahin gab, fand nicht mehr statt“, sagt die  Aktivistin Gyáfás vor dem Haus Nummer 15 in der Király-Straße. Eines der letzten Mahnmale dieser dunklen Epoche, das letzte Stück der Ghettomauer im Innenhof des Hauses, wurde 2006 auf Geheiß des Neueigentümers beseitigt. „Es wäre ein würdiger Ort des Gedenkens gewesen“, sagt Gyárfás leise.Heute lebt immerhin ein Fünftel der etwa 80.000 ungarischen Juden im historischen jüdischen Viertel. „Die jüdische Bevölkerung verlässt den Bezirk nicht mehr so zahlreich wie früher und inzwischen gibt es auch keine Hinweise mehr darauf, dass hier nur Juden der älteren Generationen wohnen“, so der Soziologe János Ladány, der sich intensiv mit dem jüdischen Viertel beschäftigt hat. Besonders eine junge jüdische Intelligenz, die selbstbewusst mit ihrer Herkunft umgeht, schafft sich neue Orte der Begegnung im Umkreis der Király-Straße, der Lebensader des Viertels  – Orte wie das Sirály, in dem heute alle Tische besetzt sind und wo gerade Stuhlreihen für einen Vortrag eines Historikers über die Schoa in der Literatur aufgestellt werden. Junge Frauen und Männer unterhalten sich, trinken Bier und Kaffee oder surfen drahtlos im Internet. Ádám Schönberger sitzt auf einem Sofa vor einem Bücherregal im ersten Stock und legt seinen Laptop beiseite. Das Bekenntnis zu seiner jüdischen Herkunft schwingt in jedem seiner Sätze mit. „Wir wollten hier einen Ort schaffen, an dem jüdische und nicht-jüdische Kreise ins Gespräch kommen können – und zwar außerhalb der Wände von jüdischen Einrichtungen und Synagogen“, sagt Schönberger, der das Sirály mit Freunden aus der jüdischen Kultur- und Theaterszene im September 2006 gegründet hat. Damals entschloss sich der Freundeskreis gegen den Widerstand der Stadtverwaltung, das seit einem Jahrzehnt leer stehende, allmählich verfallende Gebäude in der Király-Straße herzurichten und für kulturelle Zwecke zu nutzen. Neben regelmäßigen Theaterveranstaltungen im Keller des Gebäudes finden hier vor allem Vortragsreihen, Gespräche und Ausstellungen mit jüdischem Bezug statt.Das Sirály ist sonst vor allem Café und abendlicher Treffpunkt für Studenten, Künstler und Schauspieler. Nur als Kneipe, in der man sein Bier trinkt und dann geht, solle es aber nicht gesehen werden, betont Schönberger. Dafür gibt es Bars und Clubs wie das Szóda, die eine immer größer werdende junge jüdische Partyklientel bedienen. „Das Sirály ist ein alternativer Ort jüdischen Lebens in einem ungarischen Kulturkontext“, fasst der 28-Jährige zusammen, der selbst ein Jahr in Israel gelebt hat. Inzwischen hat die Stadt häufiger Druck auf die jungen Betreiber ausgeübt, das Gebäude zu verlassen. Schönberger aber denkt nicht daran. „Wenn wir hier im Café gemeinsam mit jüdischen und nicht-jüdische Gästen Hanukkah-Kerzen anzünden und die Segenswünsche dazu singen, dann ist unser Konzept auf jeden Fall erfolgreich.“ Auch im Sirály haben sie den Kampf um das historische jüdische Viertel noch lange nicht aufgegeben.  INFOKASTEN:Anreise per Flugzeug:
easyjet ab Berlin (ab 60 Euro)
germanwings ab Hamburg, Köln/Bonn, Leipzig, München, Rostock, Stuttgart (ab 180 Euro)
Malév ab Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg, Stuttgart (ab 220 Euro)Tipps zum Ausgehen:
Spinoza, Dob utca 15 (Restaurant)
Sirály, Király utca 50 (Bar)
Szoda, Wesselényi u. 18 (Bar)
Konditorei Fröhlich, Dob u. 22
Restaurant Hanna, Dob u. 35Infos zu Budapest und zum jüdischen Viertel:
http://www.budapestinfo.hu/de/ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0


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