Nur wenige Jahre Freiheit
Nicht erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärten die südkaukasischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit. Zum ersten Mal taten sie das bereits vor 90 Jahren, Ende Mai 1918. Doch die Phase der staatlichen Freiheit währte nur kurz: Bereits nach zwei Jahren siegten die Bolschewiki in Aserbaidschan und Armenien gegen die nationalbewussten Kaukasier. Einzig die Georgier konnten ihre Republik ein paar Monate länger verteidigen.
Anfang des 20. Jahrhunderts war das am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres gelegene Baku ein internationaler Ort: Die Ölindustrie lockte zahlreiche Arbeiter aus benachbarten Ländern in die Stadt. Während der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907 nahmen in Baku mehr russische und armenische Arbeiter an den Aufständen Teil als aserbaidschanische. In seinem Buch „Stalin“ beschreibt Leo Trotzki Baku als das kaukasische Zentrum der Arbeiterbewegung, in dem Bolschewiki aus Russland, Georgien und Armenien revolutionär geschult wurden, darunter unter dem Pseudonym Koba auch der spätere Diktator Stalin. Diese Bolschewiki riefen später die Bakuer Kommune aus und wollten die Sowjetherrschaft auf den gesamten Kaukasus ausdehnen. Doch zunächst gründeten Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre am 25. April in Baku einen Sowjet der Volkskommissare (SVK).
Der sowjetische Historiker Jewgeni Tokardschewski bewertete dessen Tätigkeit durchweg positiv: Der Bakuer SVK habe viele Reformen in Baku und umliegenden Bezirken durchgeführt. „Es wurden Dekrete über die Nationalisierung der Erdölindustrie, der Banken und der Kaspischen Handelsflotte… über die Aufteilung des Großgrundbesitzes unter den Bauern herausgegeben. In Fabriken wurden die Arbeitskontrolle, der achtstündige Arbeitstag eingeführt und das Gehalt der Arbeiter erhöht.“ Die nationalistischen Kräfte im Südkaukasus sahen die Bakuer Kommune hingegen als Gefahr für ihre Länder und kämpften gegen sie.
Am 11. November (24. November) 1917 gründeten georgische Menschewiki, armenische Daschnaken und aserbaidschanische Mussawatisten in Tiflis das Transkaukasische Kommissariat und versuchten so, die Situation unter ihre Kontrolle zu bringen. Am 10. Februar 1918 konstituierte sich das Parlament Transkaukasiens. Am 3. März unterzeichneten die Bolschewiki mit den Mittelmächten einen Friedensvertrag, der unter anderem die Position des Osmanischen Reiches im Kaukasus stärkte. Da die meisten Abgeordneten des Transkaukasischen Parlaments die Bedingungen des Friedensvertrag von Brest-Litowsk nicht anerkennen wollten, kam es zur Auseinandersetzung mit der Türkei. Türkische Truppen besetzten mehrere Gebiete im Kaukasus und rückten bis nach Tiflis vor.
Die transkaukasischen Abgeordneten verhandelten erneut mit den Türken, die jetzt die Unabhängigkeit des Gebiets forderten. Wenn Transkaukasien nicht mehr zu Russland gehören würde, spekulierten sie, könnten sie es leichter unter ihre Kontrolle bringen. Am 9. April rief das Transkaukasische Parlament die Transkaukasische Föderative Demokratische Republik aus, zu der Georgien, Armenien und Aserbaidschan gehörten. Auch Deutschland verfolgte zu dieser Zeit einige Interessen im Südkaukasus: Berlin wollte die strategisch wichtige Eisenbahnlinie Baku-Tiflis und die Ölfelder in Baku kontrollieren. Besonders in Georgien wollten die Deutschen Einfluss gewinnen. Der Vertreter des Generalsstabs der deutschen Armee General Otto von Lossow empfahl den Georgiern deshalb, sich möglichst schnell für unabhängig zu erklären.
Am 26. Mai tat Georgien dies: Es rief seine Unabhängigkeit aus und das Transkaukasische Parlament exisiterte nicht mehr. Am 28. Mai folgten die Nachbarländer Armenien und Aserbaidschan und erklärten nacheinander ebensfalls ihre Unabhängigkeit. So entstanden im Südkaukasus drei Staaten, die sich „demokratische Republiken“ nannten und oft im Streit miteinander lagen.
Während Armenier und Georgier die Türken als Gefahr ansahen und mehr mit deutscher Unterstützung rechneten, wollten die Führer der Aserbaidschanischen Republik mit Hilfe der Osmanen Baku von den Bolschewiki befreien. Schon Ende Juli standen die Truppen der aserbaidschanischen Nationalisten und der Osmanen vor Baku und wollten die Stadt stürmen. Moskau konnte den Bakuer Kommissaren keine große Hilfe zukommen lassen, obwohl Parteiführer Lenin die Machtverhältnisse im Kaukasus alles andere als gleichgültig waren.
Der Bakuer Sowjet entschied Ende Juli 1918, die Engländer zu Hilfe zu rufen, Schließlich waren sie ebenfalls am aserbaidschanischen Öl interessiert und wollten diese wichtige Stadt weder an die Türken noch an die Deutschen verlieren. Am 4. August marschierte eine kleine englische Truppe in Baku ein. Sie war jedoch nicht in der Lage, den Sturm der aserbaidschanischen Nationalisten und der Türken abzuwehren und zog sich am 14. September zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bakuer Kommissare die Stadt bereits per Schiff verlassen, wurden aber am turkmenischen Ufer des Kaspischen Meeres von Weißgardisten und turkmenischen Antikommunisten festgenommen und erschossen. Auch die Türken konnten sich in Baku und anderen Gebieten des Kaukasus nicht lange halten und mussten unter dem Druck der Entente im Oktober 1918 ihre Truppen aus der gesamten Region abziehen.
In der kurzen Zeit der Unabhängigkeit wurden die drei neuen Staaten im Kaukasus von mehreren Ländern international anerkannt. Echte Unterstützung, die ihre Unabhängigkeit gestärkt hätte, bekamen sie jedoch nicht. Der Gebietsstreit Armeniens mit Georgien Ende 1918 und der Konflikt mit Aserbaidschan um Berg Karabach 1919 führten dazu, dass die drei Staaten sich voneinander entfernten und weitgehend isoliert existierten.
Als erstes Land verlor im April 1920 Aserbaidschan seine Unabhängigkeit, als die Rote Armee Baku eroberte und die Aserbaidschanische Sowjetrepublik ausrief. Auch die Armenier wurden in diesem Jahr besiegt: Die armenischen Daschnaken waren durch einen Territorialstreit mit der Türkei und den darauf folgenden Krieg stark geschwächt. Als die Türken schon kurz vor Eriwan standen, riefen die armenischen Kommunisten die Sowjetherrschaft in ihrem Land aus und baten Russland um Hilfe. Anfang Dezember 1920 marschierten Teile der Roten Armee in Eriwan ein. Etwas länger konnte allein Georgien seine Unabhängigkeit behaupten. Erst am 16. Februar 1921 war der Einfluss der Bolschewiki so stark, dass sie die Georgische Sowjetische Republik ausrufen konnten. Ende Februar wurde auch Tiflis von der Roten Armee erobert. Mit der Gründung der Sowjetunion im Dezember 1922 wurden alle südkaukasischen Länder – Georgien, Armenien und Aserbaidschan – in dieses neue Staatsgebilde eingegliedert. Obwohl sie als unabhängige Staaten nur eine kurze Zeit existierten, ist diese Zeit für alle drei Länder noch heute von großer Bedeutung.