„Ich zähle jeden Tag, den ich lebe“
Enkelin Nadeschda hat ihren Mittagsschlaf beendet und tapst schlaftrunken ins Wohnzimmer. Viktor Haidak drückt der Zweijährigen mit dem dünnen Haar und den großen Augen ein Stückchen Apfel in die Hand. Er lächelt kurz, dann verhärten sich seine Gesichtszüge wieder. Der ehemalige Kraftwerksingenieur wird im nächsten Monat 68 Jahre alt. Seit 1971 war er in Tschernobyl beschäftigt – bis zum Unglück. Sein alter Werksausweis zeigt einen gesunden, kräftigen Mann. Heute ist Viktor nur noch ein Schatten seiner selbst: „Früher wog ich gut 100 Kilo, jetzt nur noch 66. Ich hatte zwei Herzinfarkte, eine Krebsoperation. Ich zähle jeden Tag, jeden Monat, den ich lebe.“
An den Tag der Katastrophe vor 22 Jahren erinnert sich Haidak nur zu genau. Das orthodoxe Osterfest stand vor der Tür – wie auch an diesem Wochenende. „Wir haben gerade unsere Wohnung renoviert. Am frühen Morgen hörte ich, dass am vierten Reaktor etwas passiert sei. Aber keiner wusste Genaues.“ Pflichtbewusst machte sich Viktor auf den Weg zur Arbeit. Als er das Kraftwerksgelände fast erreicht hatte, sah er das Ausmaß der Verwüstung: „Der größte Teil des Gebäudes war zerstört, ein beißender Geruch lag in der Luft. Plötzlich taten mir die Knie weh, und ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Später verstand ich, dass ich eine riesige Strahlendosis abbekommen hatte.“
Viktor Haidak hat als Kraftwerksingenieur in Tschernobyl gearbeitet / Thomas Köhler, n-ost
Der schmächtige Mann sitzt im Wohnzimmer seiner Drei-Zimmer-Wohnung im Kiewer Stadtteil Trojeschna. 1986 wurden hier Tausende Familien aus der Umgebung von Tschernobyl einquartiert. Das Neubauviertel war gerade fertig geworden. Victor lebt hier mit seiner Ehefrau Lydia, dem jüngsten Sohn Nikolai, und der Familie seiner älteren Tochter. Insgesamt sechs Personen teilen sich die 42 Quadratmeter.
„Das Chaos in Tschernobyl war riesig“, erzählt Viktor. „Die Kraftwerksleitung wartete auf Befehle aus Moskau, doch die kamen nicht.“ So dauerte es fast zwei Tage, bis Pripjat, die Stadt der Kraftwerkarbeiter und ihrer Familien geräumt wurde. 1.000 Busse holten die Menschen ab. „Man sagte uns, wir würden nach zwei, drei Tagen zurückkommen. Deshalb nahmen wir nur Dokumente und Bargeld mit“, ergänzt Lydia Haidak, die mit ihren 58 Jahren schwer herzkrank ist. Viktor und seine beiden älteren Söhne haben bei den Aufräumarbeiten geholfen. Alle drei sind heute schwer krank – wie die meisten der 600.000 „Liquidatoren“. So nannte die Sowjet-Propaganda beschönigend die Helfer, die das Feuer löschten und wochenlang mit bloßen Händen und Schaufeln die strahlenden Reaktorreste zusammenkehrten. Offizielle Opferzahlen kennt niemand, doch Viktor hat zumindest die Schicksale seiner Nachbarn genau verfolgt: „In diesem Haus wohnten anfangs 36 Familien aus Pripjat. Heute leben noch elf Männer dieser Familien.“
Der Werksausweis von Kraftwerksingenieur Viktor Haidak / Thomas Köhler, n-ost
1064 ukrainische Hrivna – umgerechnet 130 Euro – bekommt Viktor im Monat als Invalidenrente. Das ist der Höchstsatz. Als vor zwei Jahren sein Magenkrebs operiert werden musste, sammelte die Familie Geld bei Verwandten, um das Krankenhaus zu bezahlen. Aus Deutschland und Japan bekommt Viktor ab und zu Medikamente gespendet. Der ukrainische Staat vergesse die Opfer, klagt der Rentner.
Die Haidaks denken oft an Pripjat – die heile Welt vor dem Unfall. Sie vermissen ihr altes Leben. Lydia Haidak spricht mit leiser Stimme von dieser Zeit. Es fällt ihr schwer, sie ringt mit den Tränen: „Pripjat war unser Zuhause. Dort lebten unsere Freunde. Unsere Kinder wurden dort geboren. Tschernobyl hat uns alles genommen. Unsere Gesundheit und unsere Freude.“ Im letzten Jahr war die Familie zu Besuch in der 30-Kilometer-Sperrzone um den Unglücksreaktor. Sie darf nur mit Genehmigung betreten werden. Zum Beispiel von den 3.000 Mitarbeitern des Kraftwerks, die den Sakrophag, das Atommüll-Lager und die drei stillgelegten Rektorblöcke bis heute in drei Schichten verwalten und bewachen. In den nächsten Jahren wird mit internationaler Hilfe eine zweite Betonhülle über das bröckelnde Reaktorgrab gebaut. Die neue Hülle soll 100 Jahre halten.
Neben Pripjat und Tschernobyl gab es über 70 Dörfer auf dem heutigen Sperrgebiet, das so groß ist wie Luxemburg. Von den insgesamt 91.000 Umsiedlern sind inzwischen rund 400 alte Menschen in die „Zone“ zurückgekehrt. Man hat es ihnen erlaubt. Trotz der Strahlung wollen sie ihre letzten Jahre dort verbringen. Die Haidaks wollen das nicht. Sie haben das Grab von Viktors Vater besucht, das alte Wohnhaus in Pripjat fotografiert, die Klinik, in der ihr jüngster Sohn Nikolai auf die Welt kam. Lydia Haidak ist aufgewühlt, wenn sie von der Reise in die Vergangenheit spricht: „Es war sehr merkwürdig. Nichts ist mehr, wie es war. Alles ist gestohlen worden. Es ist ein furchtbarer Ort. Nichts Lebendiges ist dort geblieben.“
Lydia Haidak und ihrer Enkelin sind beide durch die Strahlung erkrankt / Thomas Köhler, n-ost
Inzwischen ist Nikolai nach Hause gekommen. Sofort klappt der 22-Jährige seinen Laptop auf und setzt sich an einen kleinen Tisch in der Ecke des Wohnzimmers. Er war noch ein Säugling, als der Reaktor explodierte. Schon als Baby musste er mehrere Krebsbehandlungen über sich ergehen lassen, wurde in Kuba kostenlos operiert. Dafür ist die Familie bis heute dankbar. Jetzt studiert Nikolai Informatik. Er will Computer-Programmierer werden und arbeitet als System-Administrator, um sein Studium zu finanzieren. „Ich bin krank, aber versuche nicht immer daran zu denken“, sagt er knapp. Doch das Verdrängen fällt schwer. Genetische Schäden werden noch viele Generationen von Tschernobyl-Nachkommen belasten. Auch Nikolais zweijährige Nichte ist nicht gesund. Nadeschda wurde sie genannt. Auf Russisch heißt das Hoffnung.