Good Bye, Aljoscha
Vor einem Jahr, in der Nacht auf den 27. April 2007, zogen rebellierende Jugendliche durch die Gassen der beschaulichen Tallinner Altstadt, schmissen Steine und plünderten Geschäfte. Rund 1000 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Anlass für die größten Unruhen in der jungen Geschichte des unabhängigen Estlands war die Verlegung der Bronze-Statue eines sowjetischen Soldaten zum Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriege, liebevoll auch Aljoscha genannt.
Der Bronzene Soldat. / Anne Ackermann, n-ost
Der 34-jährige Russe Dmitri Linter soll die Unruhen angezettelt haben. Linter zählt sich zu den Gründungsmitgliedern der „Nachtwächter“, einer Gruppe, welche die Verlegung des Denkmals von einem öffentlichen Platz im Stadtzentrum auf einen Militärfriedhof verhindern wollte. Seine persönliche Geschichte ist eng mit den April-Geschehnissen verwoben: „Ich habe alles verloren, meine damals junge Ehe ist an meiner siebenmonatigen Haftstrafe zerbrochen.“ Der 34-Jährige spricht ruhig und freundlich. Manchmal weicht er Fragen aus und eröffnet einen Monolog in dem er druckreif erzählt, was er schon etlichen Male referierte: von seinen vergeblichen Bitten an die Obrigkeit, sich mit den „Nachtwächtern“ zu treffen, von Folter, von Diskriminierung, Schikane und einer Verschwörung gegen die russische Minderheit. Mit festem Blick und harten Worten fesselt Linter seine Zuhörer. Man kennt seinen Namen in Estland: Oft hat er sich im russischen Fernsehen als Opfer einer faschistischen Kampagne gezeigt, oft wurde er von der estnischen Presse als Täter, als Anstifter der Unruhen identifiziert.
Dimitri Linter / Anne Ackermann, n-ost
Als Marja Lauristin hört, dass auch Dimitri Linter befragt wurde, verweigert sie zunächst ein Interview. Die Estin möchte nicht in einem Artikel auftauchen, in dem auch der Extremist zu Wort kommt. Er sei ein professioneller Lügner – der seine Anweisungen direkt aus Moskau erhalte. Niemals würde sie sich mit Linter in einem Raum aufhalten. Schließlich akzeptiert die Professorin dann doch ein Gespräch in der Universitätsstadt Tartu.
Nach der Unabhängigkeit Estlands wurden viele Denkmäler aus sowjetischer Zeit versetzt oder entfernt, der Bronzene Soldat behielt seinen Platz, verlor zunächst aber an Bedeutung, erzählt die Mitbegründerin der Sozialdemokratischen Partei Estlands. Im Jahr 2005, als Russland den 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland feierte, blieben der estnische und der litauische Präsident der Zeremonie in Moskau fern. Erst wenn Russland das Geschichtsverständnis aufgebe, dass sich die baltischen Staaten freiwillig der Sowjetunion angeschlossen hätten, gäbe es einen Grund zum Feiern.
Marja Lauristin zufolge nahmen seit 2005 politische Aktionen rund um das Denkmal wieder zu. Um den Streit zu entschärfen, wurde über eine Umdeutung und Umgestaltung diskutiert. Das heizte den Konflikt erst richtig an: zahlreiche Parteien nutzten das Thema, um im Wahlkampf 2007 auf Stimmenfang zu gehen. Längst war der Ort rund um das Denkmal vor der Nationalbibliothek für politische Versammlungen verboten worden. Nach der Wahl geschah dann alles in Eile. Die überforderte Polizei griff in der von Krawallen begleiteten Nacht der Verlegung zu, nahm Hunderte fest. Dass auch Geschäfte zerstört und geplündert wurden, das habe niemand vorhersehen können.
Die Probleme, die mit der russischen Minderheit in Estland bestehen, gebe es in anderen europäischen Ländern auch, sagte die Professorin, die für ein neu aufgelegtes Integrationsprogramm Untersuchungen durchführte: „Viele Russen isolieren sich selbst sehr stark. Sie bleiben in ihren Ghettos, haben keinen Kontakt zu Esten, schauen nur russisches Fernsehen“ Der russische Staat unterstützt die ablehnenden Haltung. Er sei bestrebt diese Menschen von der Mitgestaltung ihrer neuen Heimat fernzuhalten. Ihr ist es wichtig zwischen dieser Gruppe und einer weiteren, die in der Mitte der estnischen Gesellschaft angekommen ist, zu unterscheiden. Letztere habe sehr besorgt auf die Unruhen reagiert und sich für das schlechte Image geschämt.
Beobachtet man Estlands feiernde Jugend in den Nachtklubs der Hauptstadt und fragt man Studenten nach ihrem Verständnis der Vergangenheit, so wird deutlich: Good bye Aljoscha. Die neue Generation ist in Europa angekommen. So erfüllte auch den 19-jährigen Roman Kornilov Scham, als er die Unruhen auf Tallinns Straßen am Fernsehen verfolgte: „Das hat ein so schlechtes Bild auf die Russen geworfen.“ Dabei habe er nie das Gefühl gehabt, als Russe das Denkmal verteidigen zu müssen. Der Abiturient, dessen Vater nur Russisch spricht, hat sich bewusst für die estnische Staatsbürgerschaft entschieden. „Ich möchte das Land mitgestalten, in dem ich lebe und dabei spielt es keine Rolle, welchen Ursprungs ich bin.“ In der vergangenen Woche etwa lud er alle Lehrer seiner russischen Schule zu einem Seminar ein und hielt eine Rede über Toleranz und Multikulturalismus. Er gab damit weiter, was er in einem Ferienkurs gelernt hatte: „Unterschiede verbinden.“