„Im Krieg muss man zurück schießen“
Vor 65 Jahren wagten Warschaus Juden einen Aufstand gegen Nazi-Deutschland – eine Spurensuche(n-ost) - Dichtes Gedränge herrscht in dem sonst einsamen Innenhof der Ulica Zlota 60, der Goldstraße mitten im Zentrum von Warschau. Etwa 50 Jugendliche stehen vor den Resten einer Backsteinmauer und hören einer Reiseführerin zu. Die Kippas auf den Köpfen der jungen Menschen zeigen an, dass es sich um Juden handelt. Die drei Meter hohe Mauer grenzte einst das Warschauer Juden-Ghetto von der „arischen“ Seite der Stadt ab und ist eines der wenigen noch sichtbaren Symbole des Leidens der polnischen Juden. Hinter diesen Mauern begann im April vor genau 65 Jahren der wohl mutigste Versuch, dem Holocaust etwas entgegenzusetzen: der Aufstand im Warschauer Ghetto.Die Geschichte des Ghettos begann im Oktober 1940, als in der von deutschen Truppen besetzten polnischen Hauptstadt der „Jüdische Wohnbezirk“ errichtet wurde, wie es im Amtsdeutsch hieß. Auf engstem Raum lebten hier 350.000 Menschen zusammengepfercht und unter grausamen Bedingungen. „Auf der Straße lagen Leichen, man sah die Zerstörung und die Armut“, erinnert sich die heute 76-jährige Katarzyna Meloch an die Monate, die sie als Zehnjährige im Ghetto verbracht hat. Später wurde sie von ihrer Familie auf die so genannte „arische Seite“ geschleust und überstand den Krieg als vermeintlich katholisch getauftes Kind in einem kirchlichen Waisenhaus.Im April 1943 lebten von den einst 350.000 Juden nur noch rund 60.000 Menschen, da beschlossen die deutschen Behörden die Auflösung des „Jüdischen Wohnbezirks“. Ab 19. April 1943 stießen sie überraschend auf bewaffnete Gegenwehr der jüdischen Bevölkerung. Der aus verschiedenen jüdischen Parteien und Gruppen gebildeten jüdischen Kampforganisation „Zydowska Organizacja Bojowa“ gelang es, einen knappen Monat lang – militärisch von vornherein unterlegen und aussichtslos – den deutschen Truppen unter SS-General Jürgen Stroop standzuhalten. Erst mit der Niederbrennung des gesamten Ghettogeländes konnten die deutschen Einheiten das Gebiet bis zum 16. Mai 1943 wieder unter ihre Kontrolle bringen. „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr“, meldete damals SS-Mann Stroop seinem Dienstherren Heinrich Himmler.Nur wenige Menschen haben die Zeit im Ghetto überlebt und längst nicht alle, die noch reden könnten, möchten diese dunklen Erinnerungen preisgeben. Katarzyna Meloch dagegen sieht es als ihre Pflicht an, ihre Erlebnisse weiterzugeben. Gemeinsam mit anderen Überlebenden hat sie gerade das Buch „Dzieci Holocaustu mowia“ (Die Kinder des Holocausts erzählen) mit zwei Dutzend Zeitzeugenberichten und Erzählungen aus dem Ghetto herausgebracht, ein Vermächtnis für die Nachwelt. Wer versucht, diesen Lebensgeschichten im heutigen Warschau auf die Spur zu kommen, tut sich schwer. Wer gar die Kulissen aus Roman Polanskis preisgekröntem Film „Der Panist“ erwartet, wird enttäuscht. Polanskis drehte im Warschauer Stadtteil Praga auf dem rechten Weichselufer, dort gibt es noch einen hohen Altbaubestand, weil dieser Teil Warschaus früh von der Roten Armee besetzt wurde. Auf dem einstigen Gelände des Ghettos ist dagegen praktisch kein Stein auf dem anderen geblieben. Schuld daran ist die systematische Zerstörung des Stadtgebiets durch die deutschen Truppen.Der Ghetto-Aufstand gilt heute als wichtigstes Symbol für den jüdischen Widerstand gegen die Nazis. „Wir wollten der Welt zeigen, dass wir uns wehren können“, erinnert sich Marek Edelman, der letzte überlebende Anführer des Ghettoaufstandes. „Im Krieg herrscht eine andere Moral. Wenn jemand schießt, muss man zurück schießen, sonst ist man kein richtiger Mensch.“Während Edelman sich persönlich nicht als Held sieht, wurde 1948 zum fünften Jahrestag des Ghetto-Aufstandes, in Warschau ein Denkmal für die „Helden des Ghettos“ eröffnet. Bundeskanzler Willi Brandt fiel hier bei seinem Staatsbesuch 1970 auf die Knie - ein Bild, das um die Welt ging. In fast jeder polnischen Stadt wurden kurz nach Kriegsende Plätze nach den „Helden des Ghettos“ benannt. Diese Ehre wurde den Kämpfern des tragischen Warschauer Aufstandes von 1944 dagegen nicht zuteil, weil Stalin den Aufstandsversuch kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee in Warschau als anti-kommunistisch betrachtete. Bis heute werden der Ghetto-Aufstand von 1943 und der Warschauer Aufstand 1944 international verwechselt, gerade weil die Erinnerung an letzteren vom kommunistischen Polen tabuisiert wurde.Auf den Trümmern des Warschauer Ghettos entstanden nach dem Krieg großräumige Wohnsiedlungen und Parkanlagen, die sich nicht an den alten Stadtplänen orientierten. Viele der Häuser stehen auf leichten Erhebungen, darunter liegt der Schutt der zerstörten Gebäude. Zu den wenigen Spuren der einstmals größten jüdischen Gemeinde in Europa zählt die Prozna-Straße, der einzige original erhaltene Straßenzug auf dem Gelände des Warschauer Ghettos. Mit der Nozyk-Synagoge gibt es auch noch eine Gebetsstätte, dazu finden sich in Warschau heute einige Läden und Restaurants, die sich auf koscheres Essen spezialisiert haben und das Jüdische Historische Institut mit der unschätzbaren Sammlung des Ringelblum-Ghettoarchivs. In diesem Archiv lassen sich die Chroniken vieler jüdischer Gemeinden aus der Vorkriegszeit finden, Todesakten der Bewohner aber auch Tausende Augenzeugenberichte aus dem Ghetto. Wie etwa der Bericht die Studentin Almed Blima über die ersten Tage des Aufstands: „Vor mir die Mauern des brennenden Ghettos. Auf der Straße höre ich in diesem Moment das Splittern von Fensterscheiben und das Weinen eines Kindes.“ Quellen wie diese deuten auf eines der größten Rätsel des Ghettoaufstands hin, sagt Historiker Piotr Weiser, der die Geschichte des Ghettos untersucht hat: „die Frage der Zeugen“. Denn auf der „arischen Seite“ hätten die polnischen Bewohner von den Kämpfen wissen müssen. Ob Polen von den Judendeportationen auch profitiert haben? Über diese Frage wird im Lande immer wieder heftig diskutiert. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass Polen zahlenmäßig die meisten „Gerechten unter den Völkern“ in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem haben. Zum 65. Jahrestag des Ghetto-Aufstands wird die Erinnerung an die „Stadt in der Stadt“ noch einmal wach. Der israelische Staatspräsident Schimon Peres gedachte mit Polens Staatschef Lech Kaczynski Anfang dieser Woche der Toten, Zeitungen bringen Sonderseiten, am 19. April knüpfen Warschauer eine „Kette der Erinnerung“ und die Sirenen der Stadt heulen zu der Stunde auf, in denen der Aufstand begann. Zur beständigen Erinnerung an den „Jüdischen Wohnbezirk“ soll nun ein städtisches Projekt beitragen. Zum 65. Jahrestag des Aufstandes wird mit der Markierung des Ghetto-Bezirks begonnen, wie die polnische Generalkonservatorin Ewa Nekanda-Trepka ankündigte. An der Mauer in dem sonst einsamen Innenhof der Ulica Zlota 60 könnte es damit noch öfter Gedränge geben, wenn Besucher sich auf die Spuren des Warschauer Ghettos begeben.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87