Polen

Warten auf ein Wunder

Groß war der Jubel, als die UEFA am 19. April 2007 überraschend entschied, die Fußball-Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine auszutragen. Nur ein Jahr nach dieser Entscheidung macht sich in Warschau und Kiew Katerstimmung breit: Werden es die beiden Länder überhaupt schaffen, ihre Stadien bis 2012 EM-tauglich zu machen? Und was ist mit der übrigen Infrastruktur? Alleine in Polen sollen für die EM innerhalb der nächsten vier Jahre mehr Autobahn-Kilometer entstehen, als in der ganzen Nachkriegszeit gebaut wurden. Zwar stehen für die notwendigen Baumaßnahmen 38 Milliarden Euro zur Verfügung, doch die Zeit rennt davon.„Ich habe das Gefühl, dass die nächsten vier bis sechs Monate entscheidend sein werden, um einen kritischen Ausrutscher bei sportlichen und öffentlichen Infrastrukturprojekten zu vermeiden, und um die Glaubwürdigkeit der EM selbst zu schützen“, stellt UEFA-Präsident Michel Platini den beiden Ländern ein Ultimatum: Bis zum Sommer 2008 müssten die Verzögerungen bei Stadionbauten und anderen Infrastrukturmaßnahmen aufgeholt werden.

Andreas MetzDer Mann, der für Polen nun die EM retten soll, heißt Marcin Herra. Herra ist Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft PL 2012 e.V. Gegründet wurde sie erst nach massiver Kritik der UEFA an dem Stand der Vorbereitungen. „Wir bestimmen im Einzelnen, was jeden Tag gemacht werden muss, um die Organisation der Euro 2012 erfolgreich durchzuführen“, erklärt Herra seine Aufgabe.

Bei einer Pressekonferenz in Posen strahlt der 34-Jährige übers ganze Gesicht. „Die EM wird mit einem Erfolg enden“, prophezeit Herra. Endlich positive Nachrichten: Der Ausbau des Posener Stadions laufe und das Objekt habe eine gute Chance, als erstes EM-Stadion noch vor 2012 fertig gestellt zu werden. Harra weiß, dass das westpolnische Posen damit die große Ausnahme unter den vier polnischen EM-Standorten ist. Die übrigen Stadien in Warschau, Danzig und Breslau sind noch nicht einmal im Bau. Für das von deutschen Architekten geplante Warschauer Nationalstadion wird nicht vor 2009 mit dem ersten Spatenstich gerechnet. Bislang steht an seiner Stelle eine alte Arena aus den 50er Jahren mit einem versumpften Rasen, der allenfalls Wildschweinen als Freigehege dienen könnte. Auch die nötigen Autobahnen und Verkehrsknotenpunkte existieren meist nur auf dem Papier. Die Reise mit dem Auto durch Polen ist eine Strapaze, gibt Marcin Herra zu, der oft zwischen Warschau und Deutschland pendelt. Ohne Autobahnen ersticke die EM im Stau, befürchtet er.Ein Grund für die Verzögerungen sind Klagen von Betroffenen gegen die Infrastrukturprojekte. Deshalb wurde im Jahr 2007 eigens das so genannte „Supergesetz“ durchs polnische Parlament geschleust, mit dem Bebauungspläne beschleunigt aufgestellt und umgesetzt werden können. Rechtsexperten befürchten jedoch, das neue Gesetz verstoße gegen EU-Recht, weil Mitspracherechte für Bürger ausgehebelt werden.„Die Regierung muss sofort mit dem Ankauf der Grundstücke für den Bau der Autobahnen und Schnellstraßen anfangen und Baufirmen auswählen, die Stadien und Bahnhöfe errichten. Wenn wir mit dem Einholen der Baugenehmigungen nicht bald beginnen, erleben wir eine Katastrophe“, zitiert die Tageszeitung „Polska“ den Bauplaner Bartlomiej Sosna. Auch der  Vizevorsitzende des parlamentarischen Infrastrukturausschusses, Janusz Piechocinski, ist alles andere als optimistisch: „Das Risiko, dass wir es nicht schaffen, ist groß.”Unverdrossen versichert der polnische Infrastrukturminister Cezary Grabarczyk, dass die Stadien bis zur EM 2012 fertig werden. Zudem werde Polen in den nächsten vier Jahren fast tausend Kilometer Autobahnen und rund zweitausend Kilometer Schnellstraßen bauen.

Alle vier polnischen Städte, in denen EM-Partien stattfinden, sollen durch moderne Fernstraßen verbunden werden. Zudem sei eine Nord-Süd-Verbindung von Tschechien bis an die Ostsee bei Danzig geplant. Offensichtlich glaubt der Minister an ein Wunder an der Weichsel, denn um die Pläne einzuhalten, müssten ab sofort bis EM-Start täglich etwa zwei Kilometer Straße fertig gestellt werden. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2007 wurden nur 35 Autobahnkilometer übergeben.Marcin Herra hält den jüngsten UEFA-Bericht in der Hand. Neben Lob für Fortschritte gibt es darin neue, große Sorgen. Die UEFA-Experten befürchten nicht nur weitere Verzögerungen bei den Bauprojekten, sie sehen einen akuten Mangel an Arbeitskräften auf Polen zukommen. Seit der EU-Erweiterung und der Öffnung der Arbeitsmärkte durch Großbritannien, Irland und andere Staaten, gingen rund zwei Millionen Polen ins Ausland. Zu Hause werden die Handwerker knapp.

In einem Punkt sind sich die Experten bereits einig: Die polnische Bahn wird es nicht mehr schaffen, noch EM-tauglich zu werden. Das unrentable Unternehmen müsste rund 1500 Kilometer Gleise sanieren und zudem die Bahnhöfe in allen EM-Städten modernisieren – das ist längst illusorisch.Besser sieht es bei den Flughäfen aus. Alle verfügen über Modernisierungspläne und finanzielle Mittel. Der Ausbau der Hotels steckt dagegen noch in den Kinderschuhen, zumindest aber kennt man die Zielgrößen schon: Allein für Warschau sind 10.000 neue Betten vorgesehen.Marcin Herra ruft nun alle Beteiligten zur Konzentration auf das absolut Notwendige auf. „Wir dürfen nicht vergessen, was unsere Prioritäten sind. Um die EM 2012 zu organisieren, brauchen wir Stadien, Flughäfen, Hotels und Zufahrtsstraßen, das ist das absolute Minimum. Wenn wir dazu ein modernes Autobahnnetz haben, ist das super. Wenn wir letztendlich aber keine Autobahnen wie in Deutschland haben, findet die Meisterschaft trotzdem statt“.   Ukraine – Keine Straßen aber StadienLeider bessert auch der Blick nach Osten in die Ukraine nicht die Laune der UEFA. Dort ist die Infrastruktur in noch kläglicherem Zustand. Die meisten Straßen sind katastrophal und  Bahnschienen so marode, dass die Bewältigung einer 300 Kilometer langen Strecke etwa acht Stunden dauert. Mehrere hundert Kilometer Strecken bräuchten dringend eine Elektrifizierung.

Der Austragungsort Lviv/Lemberg in der Westukraine steht ganz auf der Kippe, da es dort erhebliche Probleme mit der Wasserversorgung gibt. Hryhorij Surkis, Chef der Ukrainischen Fußballföderation, warnt seine Landsleute bereits vor dem Entzug der gesamten EM. Beim Stadionbau steht die Ukraine allerdings besser da als Polen. In Donezk und Dnipropetrowsk in der Ostukraine laufen die Bauarbeiten auf Hochtouren. Ähnliches gilt für die Hauptstadt Kiew, wo allerdings fundamentale Sicherheitsregeln missachtet wurden. Direkt vor dem Haupteingang des Stadions wurde ein riesiges Einkaufszentrum gebaut, das die Fluchtwege versperrt. Erst nachdem die UEFA in Kiew intervenierte, veranlasste der Ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko persönlich kurz vor Ostern den Abriss des Supermarktes.
  
Noch hofft die geschlagene Konkurrenz auf ein Umdenken der UEFA. Italien und die gemeinsamen Bewerber Ungarn und Kroatien waren Polen und der Ukraine bei der Auswahl im Frühjahr 2007 unterlegen. Immer wieder kommen aus dieser Richtung Hinweise auf die derzeit mangelhafte Lage in den EM-Austragungsorten 2012. Auch der Chef der schottischen Fußballföderation hat sein Land bereits als Ersatz ins Gespräch gebracht. Sogar Deutschland wird genannt für den Fall, dass sich Polen einen neuen Partner für die EM suchen müsste. Franz Beckenbauer, Organisator der WM 2006, lehnt es bislang zwar ab, dass sich Deutschland aktiv ins Spiel bringt. Dennoch wird auch der Kaiser deutlich: „Es muss jetzt etwas in Polen und in der Ukraine geschehen. Sonst kommt man in Schwierigkeiten.“Bislang hat die UEFA nur die Gelbe Karte gezückt. Noch wird den Ausrichterländern Zeit gegeben, das Versäumte aufzuholen. Doch Michel Platinis Finger nesteln bereits verdächtig an der Tasche mit dem Roten Karton.

„Wir haben versucht, einen Weckruf zu starten und werden jetzt abwarten, wie sich die Lage in den nächsten Monaten bis Juni entwickelt“, sagte der Franzose der italienischen Zeitung La Repubblica. Polen und die Ukraine würden mehr verlieren, als nur eine EM. Es geht schlichtweg um ihre weltweite Reputation.Gemeinsame Not schweißt zusammen: Noch im April wollen beide Länder ein verbindliches Kooperationsabkommen zu Fragen der Sicherheit, des Transports und zur medizinischen Versorgung für die EM schließen. Ein Jahr war vergeblich darüber geredet worden. Immerhin.


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