Politische Spaziergänger
Demonstrationen sind verboten. Also spazieren die Gegner des neu gewählten armenischen Präsidenten Sersch Sarkissjan einfach. Jeden Tag versammeln sich hunderte Bürger am frühen Abend in der Nord-Allee der Hauptstadt Jerewan und flanieren durch das Zentrum. Mit ihrer „politischen Wanderung“ demonstrieren sie gegen die Präsidentschaftswahl vom Februar, die sie für gefälscht halten, und gegen den Ausnahmezustand, den Noch-Präsident Robert Kotscharian am 1. März über das Land verhängt hatte. Sie fordern Pressefreiheit und die Freilassung politischer Gefangener.Obwohl in der vergangenen Woche rund einhundert „Spazierende“ festgenommen und erst nach einiger Zeit wieder freigelassen wurden, nehmen immer mehr Menschen an den Protesten teil. Am 29. März beteiligten sich auch Politiker an der Demonstration, die so nicht heißen darf. So wurde unter anderem Generalstaatsanwalt Aghvan Hovsepian in der Nordallee gesehen. Auf die Frage, ob er sich der ‚politischen Wanderung‘ anschließe, antwortete er: „Wieso, darf man heutzutage nicht mehr spazieren? Ich gehe von der Arbeit nach Hause.“
Demonstrationen gegen das Ergebnis der Wahl. / Irena Samveli, n-ost
Die Protestierenden wehren sich gegen die Präsidentschaftswahl vom 19. Februar, aus welcher der amtierende Premierminister Sersch Sarkissjan mit rund 53 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen war. Oppositionsführer Lewon Ter-Petrosjan erhielt offiziellen Angaben zufolge 21,5 Prozent. Hunderttausende Armenier versammelten sich daraufhin zu Demonstrationen in Jerewan. In der Nacht zum 2. März trieb die Polizei die Menschen mit Gewalt auseinander. Laut offiziellen Angaben kamen dabei acht Menschen ums Leben, mehrere hundert wurden verletzt. Inoffiziell spricht man in Armenien von etwa 30 Toten. „Dies ist nicht mehr der Kampf von Lewon Ter-Petrosjan, das ist der Kampf der Bevölkerung“, sagt David Schahnasarian. „Das Volk lässt das nicht länger mit sich machen, es beginnt jetzt zu kämpfen.“ Schahnasarian hatte als Abgeordneter im Parlament gesessen, als Ter-Petrosjan noch Präsident war. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit 1991 hatte Ter-Petrosjan dieses Amt angetreten. Sieben Jahre später musste er zurücktreten, weil er im Krieg um die Region Berg-Karabach zu Zugeständnissen an Aserbaidschan bereit war.
Demonstration im Zentrum von Jerewan. / Irena Samveli, n-ost
Auch Mane spaziert mit auf der Nord-Allee. Die Mittdreißigerin hat keine Angst. „Ich werde weiter machen und die anderen auch”, sagt sie mit Nachdruck. Die Brutalität der Polizei hat Mane am 1. März am eigenen Leib erfahren, als sie sich am Boden liegend unter den Tritten bewaffneter Sondereinheiten krümmte. Auch sie hat die Kandiatur Ter-Petrosjans unterstützt. Stolz zeigt sie Bilder, die sie mit ihren Lieblingspolitikern zeigen. Sie nimmt einen kräftigen Zug von der Zigarette. „Die haben sich mit Sicherheit mein Gesicht gemerkt“, sagt sie und meint die prügelnden Polizisten. Aus Sicherheitsgründen wohnt sie vorerst lieber bei einer Freundin.Inzwischen erscheinen oppositionelle Medien in Armenien wieder. Während des Ausnahmezustands hatten sie ihre Redaktionen geschlossen, aus Protest gegen mögliche Zensur. Neu eingeführte „Ergänzungen“ und „Änderungen“ der aktuellen Pressegesetze haben die Medien- und Versammlungsfreiheit in Armenien seither erheblich beschränkt. So dürfen sich Journalisten beispielsweise nicht mehr negativ über die amtierende Regierung äußern. Oppositionszeitungen veröffentlichen nichtsdestotrotz offene Appelle zum zivilen Ungehorsam und rufen dazu auf, die „jetzige faschistische Regierung Armeniens zu boykottieren“. Offiziellen Angaben zufolge befinden sich derzeit etwa einhundert Oppositionelle in Haft. Sie werden der Anstiftung zum Putschversuch beschuldigt. „Diejenigen, die mit der Organisation des Putsches nichts zu tun hatten, werden frei gelassen“, versprach Wahlsieger Sersch Sarkissjan. Unterdessen weiteten sich die Proteste auch auf die zentralarmenische Stadt Hrasdam aus. Zwei Oppositionelle traten in einen öffentlichen Hungerstreik. Sie fordern die Freilassung politischer Gefangener. Einige Inhaftierte schlossen sich dem Streik an, ihre Zahl wächst von Tag zu Tag.
Jerewan nach Verhängung des Ausnahmezustandes. / Irena Samveli, n-ost
Die aktuelle Kraftprobe in Armenien mutet dabei an wie ein Rückblick in die Vergangenheit – nur unter umgekehrten Vorzeichen. 1995 war der damalige Präsident und heutige Oppositionskandidat Ter-Petrosjan hart gegen Regimekritiker und oppositionelle Medien vorgegangen. Nachdem seine umstrittene Wiederwahl ein Jahr später Massenproteste auslöste, schickte er Truppen in die Hauptstadt und ließ einen Großteil der Opposition verhaften. Die Krise verschärfte sich, bis Ter-Petrosjan 1998 unter Zwang zurücktrat. Wahlsieger Sersch Sarkissjan geht unterdessen ungeachtet der Proteste seinen Pflichten als zukünftiges Staatsoberhaupt nach. Ende März reiste er nach Russland, wo er mit Premierminister Viktor Subkow über eine stärkere Zusammenarbeit in der Wirtschaft sprach. Momentan vertritt er sein Land beim Nato-Gipfel in Rumänien. Auf die Frage, ob er darüber nachdenke, den Protesten nachzugeben und zurückzutreten, antwortete Sarkissjan in einem Fernsehinterview kurz und knapp: „Nein“.