Zerrissen zwischen Europa und Russland
Nachdem die Europäische Union den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch gerügt und ausgeladen hat, diskutiert sein Land über die politische Richtung. Noch ist der Großteil der Ukrainer für die europäische Integration. Es gibt aber auch Stimmen für die Annäherung an Russland.
Kiew (n-ost) – „In den vergangenen Wochen sind wir jeden Morgen ein wenig mehr in einem anderen Land aufgewacht“, schrieb der Journalist Sergeij Leschenko in der Internetzeitung Ukrayinska Pravda Ende Oktober. Kurz zuvor hatte die Europäische Union bekannt gegeben, dass der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch derzeit in Brüssel unerwünscht ist. Der Grund war das umstrittene Urteil gegen die frühere Regierungschefin Julia Timoschenko. Diese war vor rund zwei Wochen in einem international kritisierten Prozess wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Timoschenko bestreitet die Vorwürfe und hat Berufung eingelegt.
Doch anstatt die Beziehungen zur EU zu kitten, eröffnet die ukrainische Staatsanwaltschaft fast wöchentlich neue Strafverfahren gegen die ehemaligen Regierungschefin Timoschenko. Der Generalstaatsanwalt gab in der vergangenen Woche bekannt, dass man zwei Fälle aus den Jahren 1996/97 neu aufrollen will. Damals soll Timoschenko als Direktorin des Energiekonzerns United Energy Systems Ukraine (UESU) vier Millionen Euro an Steuern hinterzogen haben und 405 Millionen US Dollar veruntreut haben. Sicher, das ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Doch warum werden diese Sachen ausgerechnet jetzt wieder ausgegraben?
„Die Regierung will Timoschenko psychologisch brechen“, behauptet Alexander Turtschinow, Vize-Vorsitzende der Timoschenko-Partei Vaterland. Außer gegen die Oppositionspolitikerin wird nun auch gegen ihren 75 Jahre alten, schwerkranken Schwiegervater, ihren Ehemann sowie andere Familienangehörige ermittelt. Die Fälle sind 2001 und 2003 bereits durch alle Instanzen gegangen. 2005 wurden die Verfahren geschlossen. „Die Vorwürfe sind längst verjährt“, sagt ihr Anwalt Sergej Wlasenko.
Doch es geht mehr als um einen Prozess gegen eine ehemalige Politikerin. Seit Präsident Viktor Janukowitsch an der Macht ist, entfernt sich das Land immer mehr von einer Annäherung an die Europäische Union. Die Zerrissenheit des Landes zwischen Russland und Europa sieht man auch in den Umfragen: Mitte Oktober sprachen sich gut 43 Prozent der Ukrainer für eine EU-Mitgliedschaft der Ex-Sowjetrepublik aus. Gut 30 Prozent befürworteten den Beitritt zur gemeinsamen Zollunion mit Russland, Kasachstan und Weißrussland.
Irina Pukchalska-Wells ist für Europa. Die zweifache Mutter lebt mit ihrem Mann in Kiew, stammt aber aus dem westukrainischen Ternopil. „Ich bin für den europäischen Weg, für mich gibt es kein Zurück“, sagt die 28-jährige Mitarbeiterin einer Nicht-Regierungs-Organisation. Durch das Internet seien die jungen, gutausgebildeten Leute weltweit vernetzt. „Ein Land, das sich abschirmt, fällt zurück“, meint Irina. Doch Leute wie Irina kehren der Ukraine immer häufiger den Rücken: Allein im vergangenen Jahr sind drei Familien aus ihrem Freundeskreis nach Kanada ausgewandert, zwei in die USA und eine nach Großbritannien.
Ob sich die Ukraine tatsächlich noch auf Westkurs befindet, ist fraglich. Europäische Standards würden die Macht von Präsident Janukowitsch zerstören, meint der Journalist Sergeij Leschenko. Seit seinem Amtsantritt ist bereits an zu vielen Schrauben gedreht worden: Die Regierung zensiere die Medien, verfolge politische Gegner, betrüge bei Wahlen und akzeptiere Korruption.
Im von Oligarchen und der Regierung gelenkten Fernsehen kann man jeden Freitag verfolgen, wie die politische Führung versucht, die Bevölkerung an eine mögliche Abkehr von Europa zu gewöhnen. In der Talkshow von Savik Schusters, einem 2005 aus Russland vor Putins Zensur in die Ukraine emigrierten TV-Moderator, kommen gezielt Euroskeptiker zu Wort. Das Thema einer Sendung lautete beispielsweise: „Darf die Europäische Union der Ukraine ihre Regeln aufdrücken?“ Im Publikum saßen Kinder verschiedener Schulen, auch die Schulleiter wurden befragt. Sie stimmten sogar zu 72 Prozent mit nein.
„Mit solchen Sendungen und Fragestellungen macht man gezielt Stimmung gegen Europa“, schreibt der bekannte Blogger, Journalist und Weggefährte Schusters, Mustafa Naiem. Eine Kiewer Studenten-Gruppe sieht das ähnlich. Aus Angst, erkannt zu werden und den Studienplatz zu verlieren, möchten die Studenten anonym bleiben. Vor ein paar Tagen haben sie Straßenschilder in Kiew angebracht, auf denen Parolen wie „Polizei hört mit“ oder „Land in der Sackgasse“ zu lesen ist.
Jaroslaw kann solchen Aktionen nichts abgewinnen. Er beendet im kommenden Jahr sein Jura-Studium und sitzt in seiner Freizeit gerne in einem der vielen Kiewer Cafés. Bei kostenlosem Internetanschluss und Latte Macchiato genießen er und seine Freunde einen ähnlichen Lebensstil wie in Berlin oder Brüssel. „Ich will die Zusammenarbeit mit Russland. Die Ukraine braucht billiges Gas, und wir haben sowieso schon enge wirtschaftliche Beziehungen zu den Ländern der Zollunion“, sagt der 22-Jährige. Die EU habe derzeit viele eigene Probleme und sei ohnehin gegen die Aufnahme neuer Mitglieder.