Armenien

Alltag ohne Hoffnung

„Nie wäre ich 1989 für die Unabhängigkeit Armeniens auf die Straße gegangen, wenn ich gewusst hätte, dass es so kommen würde“, schimpft der armenische Fahrer. Am Autofenster rauschen prachtvolle Hotels, teure Geschäfte und Casinos im Las-Vegas-Stil vorbei. „Meine einzige Sorge ist heute, wie ich meine Familie ernähren kann“, sagt er und erinnert sich: „Mit 400 Rubeln im Monat konnten wir uns zu Sowjetzeiten alles leisten, was wir brauchten. Es ging uns gut damals.“Robert, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, richtet sich in seinem Fahrersitz auf und beobachtet, wie ein schwarz glänzender Jeep ihn und den alten Sowjet-„Käfer“ auf seiner Rechten zwischen den Fahrspuren überholt. Er schüttelt den Kopf: „So etwas würde man in Deutschland nicht begreifen, im Land der Disziplin und Gesetze“. Der Deutsche auf dem Rücksitz, irritiert und fasziniert zugleich vom Verkehrsgewirr und den auffallend schick gekleideten Armenierinnen, schaut auf. Doch Robert fährt fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Er schwärmt von Beckenbauer und erzählt, wie er den deutschen Fußballspielern Blumen einst geschenkt hat. „Ich habe sogar Unterschriften auf meinem Ball bekommen“. 1975 war das, der FC Bayern gastierte in Armenien.

Zum Stadtrand hin werden die Häuser immer grauer. Die Straße ist mit Schlaglöchern und Huckeln übersät. Vereinzelte Villen reicher Oligarchen wechseln sich ab mit zerfallenen Plattenbauten aus der Sowjetzeit. Kahle Bäume vor dem grauen Himmel umrahmen das Bild des armenischen Alltags.Taxifahrer Robert versinkt in Erinnerungen und fährt schweigend weiter. Anders als die meisten seiner Landsleute trägt er keine durchweg schwarze Kleidung. Er wirkt gelassen, wenn er über die Ereignisse der vergangenen Wochen spricht.

Hunderttausende hatten Anfang März gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 19. Februar protestiert. Der amtierende Premierminister Serge Sarkisian war daraus offiziellen Angaben zufolge mit rund 53 Prozent der Stimmen als Sieger hervor gegangen, Oppositionsführer Levon Ter-Petrosian erhielt 21,5 Prozent. Rund 400.000 Armenier versammelten sich daraufhin zu Protestkundgebungen in Jerewan. Ihre Zahl wäre noch weitaus größer gewesen, wenn die Straßen in die Hauptstadt nicht blockiert worden wären. Aus den Demonstrationen, die neun Tage lang friedlich verliefen, wurden schließlich in der Nacht zum 2. März innerhalb weniger Stunden blutige Auseinandersetzungen mit der Polizei und Sondereinheiten. Laut offiziellen Angaben kamen dabei acht Menschen ums Leben, mehrere hundert wurden verletzt. 700 Jerewaner wurden verhört und etwa hundert gefangen genommen.

Immer noch gehen Gerüchte um, nicht acht, sondern rund fünfzig Menschen seien bei den Auseinandersetzungen getötet worden und die Zahl der Verletzten liege weitaus höher als offiziell angegeben. Die meisten Aktivisten stehen nach wie vor unter Arrest, andere werden polizeilich gesucht. Während des Ausnahmezustands, der zwanzig Tage dauerte, stellten oppositionelle Zeitungen aus Protest gegen die Einschränkung der Pressefreiheit ihr Erscheinen ein. Es herrschte staatliche Zensur, Interviews zu politischen Themen waren verboten. Nur der staatliche Pressedienst funktionierte.

„Wir haben nur am 1. und 2. März nicht gearbeitet, aus Sicherheitsgründen“, erinnert sich Fahrer Robert. Ansonsten habe sich der Ausnahmezustand nicht auf seine Arbeit ausgewirkt, sagt er und fährt an einem Panzer vorbei und an Soldaten, die am Straßenrand ihr Lager aufgeschlagen haben. „Interessant ist“, überlegt er, „dass nach Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stets die Preise steigen und der Wechselkurs des Dollars rapide sinkt. Das scheint mir mittlerweile eine seltsame Gesetzmäßigkeit zu sein“.

Die große Politik ist dem Armenier inzwischen ziemlich egal. „Ich unterstütze weder die heutige Regierung noch ihre Vorgänger“, sagt er und erinnert an die vielen Krisen, die er und seine Landsleute seit dem Zerfall der Sowjetunion durchlebt haben. „Ich bin Bäcker von Beruf. Damals haben wir das Brot tonnenweise mit der Hand backen müssen, weil die Fabrik nicht mehr funktionierte.“ Der Krieg mit Aserbaidschan um Berg-Karabach, die Wirtschaftsblockade durch die Nachbarn Türkei und Aserbaidschan, die Korrumpiertheit der Politiker und die Schattenwirtschaft, das dauernde Fehlen von Strom und Heizung – all dies hat bei den Armeniern zu Frustration und Depression geführt. „Ich erwarte nichts mehr von diesem Land“, sagt Robert und lässt keinen Widerspruch zu. „Ende des Monats fliege ich nach Russland. Leicht wird es dort nicht, aber immerhin kann ich genug Geld für meine Frau und die Kinder verdienen“.


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