NICHT NUR KNÖDEL IM KNÖDELLAND
Über Prag leuchtet der erste Michelin-Stern Osteuropas(n-ost) - Vepro, zelo, knedlo - Schweinebraten mit Kraut und Knödeln und dazu noch ein ordentliches Bier - so stellt man sich Küche in Böhmen vor. Für die Einheimischen ist das trister kulinarischer Alltag, die Touristen dagegen sind ganz heiß darauf. Doch ganz so einfallslos muss man vornehmlich in Prag längst nicht mehr essen. Das haben auch die berühmtesten Restaurantkritiker der Welt erkannt. Lange wären sie nicht im Ansatz auf die Idee gekommen, sich in einem Land des früheren Ostblocks umzusehen. Aber nun hat sie ihr Weg doch nach Prag geführt. Und sie wurden fündig: Das Restaurant "Allegro" im Luxushotel "Four Seasons" schmückten sie mit einem Michelin-Stern, dem ersten, den sie überhaupt in Mittel-Osteuropa verliehen.Im "Allegro", ein paar Meter von der Karlsbrücke gelegen und mit einem traumhaften Blick über die Moldau auf Burg und Veitsdom gesegnet, bereitet man freilich keinen Schweinebraten. Dort schwingt auch kein Tscheche den Kochlöffel. Der Glückliche heißt Andrea Accordi, ist 31 Jahre jung und kommt aus Italien. In Florenz hatte er schon einmal einen Michelin-Stern erkocht. Jetzt, nach nur einem
halben Jahr in Prag, hat er ihn auch dort errungen. Accordi kocht in erster Linie mediterran. Der Hit seiner Küche ist ein Kalbsschnitzel mit Zitronen-Konfit und Salbei-Soße. Die Portion ist recht übersichtlich, dafür aber unglaublich lecker. Wer im "Allegro" allerdings satt werden will, muss schon ein Viergängemenü ordern. Mit Getränken kommt man dabei
locker auf umgerechnet 150 Euro. Pro Person, versteht sich. Nicht eben dem normalen tschechischen Geldbeutel zuträglich. Das Durchschnittseinkommen liegt in Tschechien momentan bei 850 Euro, Rentner müssen sich mit 350 Euro bescheiden. Accordis Kunst genießen denn auch vornehmlich betuchtere einheimische Geschäftsleute oder
die höheren Angestellten der zahllosen westlichen Firmen in Prag und Umgebung. Bei gedämpfter Musik, dem zarten Duft von frischen Blüten und einer Bedienung, die unaufdringlich ist, dem Gast aber auch
jeden unausgesprochenen Wunsch von den Augen abliest. Im Restaurant wird selbst auf die kleinsten Kleinigkeiten Wert gelegt. Die Damen etwa bekommen ein Höckerchen neben ihren Stuhl gestellt,
auf dem sie ihre Handtasche ablegen können. Soviel Stil muss sein.Accordi selbst ist glücklich, dass es in Prag so viele Gourmets gibt. "Es kommen viele Gäste zu uns, die ausgezeichnet informiert sind, die unser Angebot kennen und unsere Arbeit wirklich zu schätzen wissen. Ich bin vom ersten Tag an positiv überrascht gewesen." Einen großen Anteil seines Erfolgs weist er übrigens bescheiden seinem Vorgänger zu, ebenfalls ein Italiener, der jetzt wieder in der Heimat kocht.Die Frage ist, wie sich der Stern auf die einheimische Küche auswirken wird. Zdenek Pohlreich, Chefkoch im Prager "Imperial", ist da hoffnungsvoll: "Tschechische Köche haben auf den Michelin-Stern immer geguckt wie auf eine ferne Galaxie. Nun kommen aber die Tester wirklich zu uns. Also liegt es
auch an uns, dieses Niveau zu erreichen, dass einen Stern rechtfertigt." Bislang tun sich die einheimischen Köche schwer, kreativ zu sein. Das ist freilich kein Wunder: in sozialistischen Zeiten waren die Rezepte für die Gerichte bis ins letzte Detail vorgegeben. Es war völlig egal, wo man aß, überall schmeckte es gleich. Die Bemühungen, nach der friedlichen Revolution auch die Küche zu revolutionieren, blieben in bescheidenen Ansätzen stecken. Der Höhepunkt des Einfallsreichtums erschöpft sich in der Regel darin, zwei Scheibchen Gurke und ein Achtel Tomate in die Soße zu werfen. Die Tschechen ignorieren derlei zudem tapfer, seien sie doch keine Kaninchen, die auf Grünzeug
stünden.Die Prager und die Touristen wären dementsprechend vermutlich schon froh, wenn sie in der Moldau-
Stadt überhaupt eine böhmische Gaststätte fänden, die ordentlich böhmisch kochte. Die namentlich im Zentrum existierenden zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie entsprechend den Erfahrungen der
letzten Jahre die Preise zum bevorstehenden Osterfest mal eben einfach verdoppeln - wegen der zu erwartenden Touristen mit dem vermeintlich dicken Geldbeutel. Doppelt so gut ist das Essen allerdings nicht. Es wird nicht einmal von vier Scheiben Gurke und zwei Achteln Tomate garniert.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87