Von Partisanen und berauschten Bräuten
Es ist die "Generation Krieg", die sich in Leipzig in diesen Tagen zu Wort meldet. Es sind Autoren, die Anfang der 90er Jahre in der Blüte ihrer Jugend standen - und sie verloren. "Anders als die meisten ihrer Altersgenossen in Europa schaut diese Generation in einen schwarzen Spiegel. In seelische Trümmerlandschaften, in die sie von ihren Eltern gesetzt wurde", erklärt der Zagreber Verleger Nenad Popovic im Nachwort zu der Anthologie "Kein Gott in Susegrad" (Schöffling & Co.). In der "fünften Kolonne", einer Geschichte des Bloggers, Erzählers und Drehbuchautors Vlado Bulic aus Split wird der Krieg zum Hintergrund-Kolorit für die Pubertät des Ich-Erzählers. Der Onkel geht an die Front und weint sich beim Opa, einem ehemaligen Partisanen, über die Gräuel aus. Der Pfarrer dealt mit Kalaschnikows. Nationalistischer Führerkult bestimmt den Alltag. "In den Nachrichten war wieder dieser Tudjman zu sehen. Er sprach von irgendeinem kroatischen Traum, und viele Leute hörten ihm zu und jubelten. Wie auf dem Bild im Sachkundebuch, auf dem Tito die Stafette hält, nur dass Tudjman jetzt Tito war." Untermalt vom Soundtrack der Hooligan-Schlachtrufe und des Kriegsgetöses entdeckt der Ich-Erzähler Sex und Drogen. Er erlebt den moralischen Sündenfall am eigenen Leib: "Was wartest Du", schrie Frane mich an. Ich trat zu. Der Mann lag am Boden und hielt sich die Hände über den Kopf. Wir hieben und traten ihn, was das Zeug hielt. Dreißig Kinderfüße traten auf diesen alten Mann ein. … Ich sah Frane an. "Was hat er dir denn getan?" "Nix.'" Der Pfarrer erteilt dem Jungen Absolution für die Gewaltorgie und die Jugendlichen ziehen ihre Kokslinien auf einem Portrait des ehemaligen kroatischen Präsidenten Tudjman. Damit wird "Die fünfte Kolonne" zu einer der stärksten Erzählungen der Anthologie.
Die Dämonen des Krieges bannen Igor Stiks, preisgekrönter Autor aus Sarajevo, bekennt freimütig, dass der Krieg sein Schreibmotor ist. Während des Bürgerkriegs floh er aus seiner Heimatstadt nach Zagreb. Sein Buch "Die Archive der Nacht" (Claassen) wurde 2006 mit dem bedeutendsten Literaturpreis Kroatiens ausgezeichnet. Schreiben ist für den 30-jährigen eine Art Geisterbeschwörung. "Ein paar Dämonen konnte ich ruhig stellen. Andere sind immer noch aktiv", sagt er.Stiks spannt einen Bogen vom Zweiten Weltkrieg und vom Holocaust bis zur Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen in den 90er Jahren. Sein Protagonist ist ein Ausländer, der uneheliche Sohn eines Juden, der durch eine leidenschaftliche Begegnung erkennt, wer er ist. "In ‚Die Archive der Nacht' habe ich die Figur des österreichischen Schriftstellers Richard Richter gebraucht, um mit seinen Augen dem Schicksal meiner Geburtsstadt im Schreiben zu begegnen", erklärt Stiks. Der ehemalige Flüchtling Stiks begab sich nach dem Krieg - im Jahr 2001 - wieder ins Exil. Diesmal ging er freiwillig von Zagreb nach Paris. Er hatte Hunger nach Weltläufigkeit, sagt er. "Ich wollte einen anderen Erfahrungsraum betreten, der mir erlauben würde, der Welt ebenbürtiger zu begegnen." Der Balkan, so glaubte er damals, konnte ihm das nicht bieten. Für viele westliche Intellektuelle aber "ging der Weg zur intellektuellen und persönlichen Reife über den Osten", erklärt er die Gegenbewegung. Und er resümiert: "Leider brauchen wir London und Paris, um uns zu emanzipieren."Schmutziger Realismus. Auch die Buchmesse in Leipzig hilft bei dieser Emanzipation. Sie entwickelt sich zur Drehscheibe für Literatur aus Kroatien. Eine Literaturagentur vermittelt die Autoren. Der Verlag Voland & Quist bringt hervorragend gestaltete Bücher heraus - für einen guten Preis mit CDs als Beigabe, die selbst kleine Perlen bereithalten. Etwa, wenn Erfolgsautor Sasa Stanisic die neuesten Geschichten des Erzählers Roman Simic ("In was wir uns verlieben") mit kroatischem Akzent vorliest. Oder wenn Franziska Melzer die ungewöhnlichen Geschichten der Olga Savicevic zum Klingen bringt, die sich damit beschäftigen, ob sich Frauen Sklaven halten dürfen, ob man mit dem Bobbycar nach Australien kommt, oder eine SMS in die Zukunft schicken kann. Nichts könnte für die jungen kroatischen Autoren passender sein als diese Kombination aus Text und Audio, denn die Generation der 30- bis 50-Jährigen hat ihren eigenen "Sound". Er klingt nach Rock'n'Roll, manchmal nach dramatischer Filmmusik, er riecht nach unglaublich viel Haschisch, Alkohol und Sex.
Der 50-jährige Edo Popovic ist einer der wichtigsten Vertreter dieses "schmutzigen Realismus". Langhaarig, mit Zweiflerfalten auf der Stirn wirkt er wie aus dem Seattle der 90er Jahre nach Europa versetzt: Grunge, Gitarrensound-Wände, romantische Rebellen. Ein "Wir gegen die Welt". Popovic hat viel gesehen. Während der Jugoslawien-Kriege war er Kriegsreporter. Er litt an Tuberkulose. Das hat sein aktuelles Buch "Kalda" geprägt. Wieder - wie schon im Vorgänger "Ausfahrt Zagreb Süd" - spielt die Geschichte in einem Plattenbau-Vorort der kroatischen Hauptstadt, in Dubrava. Ivan Kalda wächst dort auf, ohne Vater. "Auf jeden Fall habe ich nicht viel über ihn nachgedacht. Ich hatte auch andere Probleme. Titten, zum Beispiel". Den Vielvölkerstaat Jugoslawien repräsentiert der Vater, und der fokussiert ihn auf ein anatomisches Detail. Er sagt: "Der eine bekommt kaltes Wasser über den Kopf, bei den anderen wird eben der Pimmel beschnitten." Seine Botschaft: Es gibt keine Unterschiede. Es gibt nur Menschen. Als Erwachsener lernt Ivan Kalda später, dass ein kleines Stückchen Haut über Leben und Tod bestimmen kann, er ist Kriegsfotograf im Sold eines zynischen Medien-Magnaten. Popovics Geschichten sind brillante Milieu-Schilderungen, vital, witzig, mit leichter Hand gezeichnet - und saucool. Schwebend in den Abgrund. Einen ganz anderen Pinselstrich hat Ivana Sajko. Die 30-Jährige aus Zagreb ist bisher vor allem durch experimentierfreudige Theaterstücke aufgefallen. In ihrem Debütroman "Rio Bar" spürt man ganz deutlich die Handschrift der Dramaturgin. Die namenlose Heldin ihrer Geschichte trägt neben einem Hochzeitskleid allegorische Züge. Sajko führt uns auf eine Balkan-Hochzeit, in die der Krieg einbricht, sie nimmt uns mit in Flüchtlingslager, sie nimmt uns mit zu Mafiosi, Gelegenheitsstechern - und zuletzt in die Endstation: die "Rio Bar". Sie könnte überall sein. Wir erfahren nicht, wo sie lebt. Wir erfahren nur vom Unglück des im Krieg gefallenen Bräutigams und vom permanenten Rausch der Protagonistin. Der Kunstgriff: Form ist hier gleich Inhalt. Wir lesen, als ob wir im Alkoholrausch wären, der Text zieht uns hinein. Die Konturen der Personen, der Zeit, des Raumes verschwimmen. Das Buch versetzt regelrecht in Trance. Es zeichnet das Lebensgefühl einer Generation nach. Ein Meisterwerk. Weitere Informationen: www.crobuch.de