Tallinn kämpft gegen abendlichen Alkoholverkauf
Ab 20 Uhr dürfen in der estnischen Hauptstadt keine alkoholischen Getränke mehr verkauft werden - eine Maßnahme zum Schutz der Volksgesundheit, ein populistischer Werbefeldzug oder womöglich gar ein Kampf zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsinteressen? Tallinn, ein Supermarkt zwischen dem Fährhafen und der mittelalterlichen Altstadt: Um 19:45 Uhr herrscht hier noch immer lebhaftes Treiben, denn in Estland gelten liberale Ladenöffnungszeiten. Auch so mancher finnische Tourist hofft noch auf ein paar Schnäppchen, bevor sein Schiff gen Helsinki in See sticht, wo das allgemeine Preisniveau deutlicher höher liegt. Aber auf einmal verstummt die Hintergrundmusik, und eine Lautsprecherdurchsage schallt quer durch das Getümmel: "Achtung, Achtung - wir machen unsere Kunden darauf aufmerksam, dass der Verkauf von alkoholischen Getränken in einer Viertelstunde zu Ende geht."
Alkoholläden und -verkaufsstellen in Tallinn. / Berthold Forssman, n-ost
Sofort macht sich Hektik breit. Gleich zwei Dutzend Personen eilen auf das Drehkreuz zu, das die Spirituosenecke von der übrigen Verkaufsfläche trennt. In Windeseile türmen die Kunden Flaschen und Bierdosen in ihre Wagen, denn Punkt 20 Uhr ist hier Schluss mit lustig: Wer dann noch versucht, mit seinen Einkäufen durch die Kassen zu schlüpfen, wird gnadenlos ausgesondert. Die Lesegeräte reagieren mit schrillem Piepen auf die Strichcodes sämtlicher Alkoholika, und für solche Fälle stehen bereits die Sicherheitskräfte bereit. Das nächtliche Alkoholverkaufsverbot in der estnischen Hauptstadt gilt zwischen 20 Uhr und 8 Uhr und kennt weder Ausnahme noch Gnade: Wer erwischt wird, muss mit empfindlichen Strafen rechnen.
Kadri, eine junge Verkäuferin ist sichtlich genervt: "Die meisten Esten haben sich inzwischen an die neuen Bestimmungen gewöhnt und stürmen die Alkoholecke auf dem Heimweg von der Arbeit, also zwischen 18 und 19 Uhr, und dann herrscht hier Hochbetrieb. Aber die Besucher aus Finnland proben noch regelmäßig den Aufstand", klagt sie. Ihre Kollegin Piret an der Kasse kriegt unterdessen den Ärger der frustrierten Kunden ab. "Eine Unverschämtheit ist das", poltert ein rotgesichtiger Finne, der mit zwei Flaschen Wodka an der Kasse hängen geblieben ist. Und auch seine Begleiterin muss ihre zwei Paletten Dosenbier stehen lassen - den Ladenbesitzern drohen sonst strenge Bußgelder. Der Präzedenzfall des Hypermarkts "Prisma Peremarket" im Rieseneinkaufszentrum "Kristiine keskus" ist den Tallinnern noch in lebhafter Erinnerung: Den Betreibern wurde für Wochen die Lizenz zum Alkoholverkauf entzogen, angeblich weil Minderjährige unbeanstandet Bier gekauft hatten. Am Ende litt nicht nur das Geschäft des Markts, sondern auch das ganze Shoppingcenter musste Umsatzeinbußen hinnehmen, bis der Fall am Ende sogar vor Gericht landete. Wochenlang kannte Estland kaum ein anderes Thema.
So schlecht finden die Tallinner das Verbot indes gar nicht. Umfragen zufolge stützen 61 Prozent der 15-34jährigen das Verbot, bei den 55- bis 74-Jährigen sind es sogar 74 Prozent. Was tödliche Verkehrsunfälle infolge von Alkoholkonsum betrifft, hält Estland in der Region den traurigen Rekord. Die Meldungen von unkontrollierten Sauforgien Jugendlicher füllen auch in Estland die Schlagzeilen. Edgar Savisaar, Bürgermeister der Hauptstadt und eine der schillerndsten Figuren in der estnischen Politik, zeigt sich denn auch zufrieden mit der im Wesentlichen von ihm selbst durchgesetzten Maßnahme: Seit Inkrafttreten des Gesetzes seien deutlich weniger Jugendliche aufgrund von Alkoholvergiftung in den Notaufnahmen der Krankenhäuser gelandet, verkündete er stolz im estnischen Fernsehen.
Die Polizeistatistiken stützen diese optimistischen Behauptungen freilich nicht: Einzig die Fälle von illegalem Verkauf an Minderjährige seien gesunken, so der jüngste Bericht, nicht aber der Konsum - der verlagert sich lediglich in nicht kontrollierbare Räume. Und auch wenn die Tallinner nicht lautstark gegen das Verbot protestieren, so unterwandern sie es doch heimlich, still und leise. Ob in Viimsi, in Maardu, in Harku oder in Saue: In den Gemeinden rund um Tallinn sprießen die Kioske und Verkaufsstände für Alkohol wie Pilze aus dem Boden, hat man erst das Ortschild hinter sich gelassen. "Ab 20 Uhr ist hier der Bär von der Kette - Abend für Abend. Und die bunkern alle gleich das ganze Auto voll", sagt Kioskbesitzer Jaan und zeigt auf die lange am Straßenrand parkende Wagenkolonne. Sein Geschäft geht glänzend - und ist vor allem legal. Das ist keine Selbstverständlichkeit mehr: Findige Ermittler haben längst herausgefunden, dass es kein Problem ist, sich in Tallinn nach 20 Uhr Alkohol nach Hause liefern zu lassen, zu überhöhten Preisen natürlich.
Verhältnisse wie in den USA während der Prohibition? Der 16jährige Martin zuckt nur mit den Schultern: "Die Telefonnummern kursieren in der ganzen Stadt", weiß der Schüler zu berichten. "Und wenn irgendwo doch noch die spontane Party steigt, hat immer irgendjemand eine Quelle parat." Inzwischen formiert sich eine Gegenfront, denn der Einzelhandel in Tallinn scharrt längst unruhig mit den Hufen - schließlich ist des einen Freud des anderen Leid. Wenn die Hauptstadt mit ihrem Gesetzesvorstoß allein bleibt, drohen auf Dauer massive Umsatzeinbrüche. Viele Kunden kaufen abends eben nicht nur ihr Bier für den in Estland so beliebten Saunagang in den Nachbargemeinden, sondern erledigen dort gleich ihren Großeinkauf.
Und je länger das allabendliche Drama andauert, desto lauter wird die Frage gestellt, welche politischen Motive sich eigentlich hinter dem neuen Gesetz verbergen. Wirtschaftsminister Juhan Parts fordert inzwischen zwar eine Debatte über ein landesweites abendliches Alkoholverbot, aber damit stößt er bislang auf wenig Gegenliebe, denn die Tallinner Umlandgemeinden sehen derzeit keinen Handlungsbedarf, das lukrative Geschäft zu beenden, zumindest nicht vor 23 Uhr. Schließlich bleibt die Frage im Raum, warum Savisaar sich auf einmal so auf den Alkoholverkauf eingeschossen hat - sowohl "Prisma" als auch das Luxushotel "Sokos Hotell Viru" gehören zu derselben finnischen Kette, denen der Oberbürgermeister bekanntermaßen nicht sonderlich grün ist. Kommunalpolitiker Leo Aadel aus Haljala sieht jedenfalls keinen Anlass zu übertriebenen Reaktionen: "Wir vertrauen unseren Bürgern, die Kriminalität ist bislang nicht gestiegen." Auch Jaako Lindmäe, stellvertretender Gemeinderat von Alatskivi, sieht keine Probleme durch den abendlichen Alkoholverkauf: "Ich glaube, das Thema wird künstlich aufgeheizt. Über diesen Punkt sollte jede Gemeinde selbst entscheiden."