Das Beten der Anderen
Unweit der großen Ringstraße, im achten Bezirk der ungarischen Hauptstadt, sticht ein Gebäude neben den benachbarten Gründerzeitbauten heraus. In dem repräsentativen aus roten und gelben Ziegeln gefertigten Backsteinbau wurde vor 130 Jahren das Budapester Rabbinerseminar gegründet. Mit der finanziellen Unterstützung von Kaiser Franz-Josef und gegen den Widerstand des orthodoxen Judentums startete das Seminar als moderne Ausbildungseinrichtung mit einem Gymnasium und einer Hochschule. Die religiösen Inhalte wurden durch weltliche Fächer wie Mathematik, Biologie oder Geographie ergänzt, die ungarische Kultur und Sprache explizit gefördert.Aktuelle Außenansicht auf das Gebäude der jüdischen Universität und RabbinerausbildungsstätteObwohl mit der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen hunderte Studenten, Rabbiner, Professoren und Dozenten des Seminars der Shoa zum Opfer fielen, wurde die Einrichtung noch vor dem endgültigen Kriegsende wiedereröffnet - als einzige Ausbildungsstätte für Rabbiner im gesamten kommunistischen Ostblock. "Nach dem Krieg blieb lediglich in Ungarn eine nennenswerte demographische Masse übrig, weshalb es hier noch möglich war, ein Rabbinerseminar zu organisieren", erklärt Dr. Péter Feldmájer, der Vorsitzende der Vertretung der jüdischen Gemeinden in Ungarn (MAZSIHISZ), in deren Trägerschaft sich die Einrichtung heute befindet. Schließlich erlaubte auch die sowjetische Führung den Fortbestand des Seminars. Nur das Gymnasium musste geschlossen werden, weil es zu wenige Schüler gab.Durch die finanzielle Unterstützung jüdischer Organisationen aus den USA und aus Großbritannien konnte das teilweise zerstörte Rabbinerseminar nach dem Krieg wieder hergerichtet werden. Nur 34 Studenten umfasste der erste Nachkriegsjahrgang, zwei Jahre zuvor waren es noch knapp 200 gewesen. Nun ließen sich auch Studenten aus der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, der DDR und aus Bulgarien in Ungarns Hauptstadt zu Rabbinern oder Kantoren ausbilden. Meist kehrten sie nach der Ausbildung in ihre Heimat zurück. Mit dem Einzug der kommunistischen Ideologie standen die Studenten des Seminars aber auch unter besonderer Beobachtung der Staats- und Geheimpolizei.Dr. Ferenz Borsányi-Schmidt, Absolvent und Dozent des RabbinerseminarsFerenc Borsányi-Schmidt ist Absolvent des Budapester Rabbinerseminars und unterrichtet heute im Fach Judaistik an seiner alten Ausbildungsstätte. Während seiner Studienzeit zwischen 1967 und 1973 schwappte in Folge des Sechstagekrieges in Israel eine zionistische Welle nach Europa. "Man musste damals sehr aufpassen, was man sagte, da die staatlichen Kontrollen sehr streng wurden", erzählt Borsányi-Schmidt. Einer seiner Kommilitonen kam für die Verteidigung der israelischen Politik in einer öffentlichen Rede ins Gefängnis. Ein anderer wurde tagelang verhört, nachdem er in einem privaten Gespräch eine pro-israelische Meinung geäußert hatte. Zum Rabbiner wurde er erst mit vielen Jahren Verspätung ernannt."Bestimmte Voraussetzungen für die Aufnahme an das Seminar gab es keine, wer aber Karriere machen wollte, hielt sich streng an die Parteilinie", erinnert sich Borsányi-Schmidt. Die ungarische Geheimpolizei benutzte vor allem Studenten als Spitzel, um an staatsfeindliche Informationen zu gelangen. Lehrer und Dozenten durften nur am Seminar unterrichten, wenn sie konform waren mit der staatlichen politischen Linie. Wer sich dieser nicht unterordnen wollte, musste die Einrichtung verlassen.Als Mittlerbehörde zwischen Staat und Rabbinerseminar fungierte die Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (MIOK). Diese landesweit wichtigste jüdische Einrichtung, die die Leitung des Seminars bestimmte, hatte enge Verbindungen zu Geheimpolizei, Arbeiterpartei und zum eigens eingerichteten Amt für religiöse Angelegenheiten. Das Rabbinerseminar war deshalb vollkommen abhängig vom Wohlwollen des Staates. "Es wurden ausschließlich Lehrer und Professoren ernannt, die der politischen Vorstellung des Staates entsprachen. Die Lehrkräfte gingen viele Kompromisse ein, um den Bestand des Rabbinerseminars nicht zu gefährden", betont Feldmájer.Der Vorsitzende der Vertretung der jüdischen Gemeinden in Ungarn, Péter FeldmájerNach der Wende konnte die Einrichtung ihre Autonomie zurückgewinnen. Die Hilfe finanzieller Unterstützung der deutschen Niermann-Stiftung wurden die Räumlichkeiten und die Bibliothek renoviert. Seit den 1990er Jahren fungiert das Rabbinerseminar nun auch als jüdische Universität und steht Studenten der Fachrichtungen jüdische Kunstgeschichte, Sozialarbeit oder Liturgiegeschichte offen. Dies ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die sinkende Anzahl der Absolventen des Rabbinerseminars: Aktuell absolvieren gerade einmal zehn Studenten die Rabbinerausbildung. Eine Aufarbeitung der kommunistischen Periode der 1877 gegründeten Einrichtung in Budapests 8. Bezirk liegt indes noch in weiter Ferne. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87