Überraschende Wende im Prozess gegen Timoschenko
Eigentlich sollten heute die Plädoyers im Prozess gegen die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gesprochen werden. Doch nach einem fast dreimonatigen Verhandlungsmarathon hat Richter Rodion Kireev den Termin nun bis zum 27. September vertagt. „Die Entscheidung kam für uns überraschend, ganz offensichtlich will die ukrainische Seite Zeit gewinnen“, sagte eine hochrangige EU-Diplomatin.
Auch im Gerichtssaal sorgte die Entscheidung für Rätselraten. Timoschenko und ihre Verteidiger zeigten sich irritiert: „Noch am Donnerstag hat der Richter unseren Antrag, die Verhandlung für fünf Tage zu verschieben, kommentarlos abgelehnt“, sagt Timoschenkos Hauptverteidiger Sergej Vlasenko.
Die Beschuldigte war am frühen Montagmorgen tadellos im hellen Kostüm und mit ihrer traditionellen Zopffrisur im Saal erschienen. Sie wirkte nervös. Nachdem die Verhandlung dann nach nicht einmal einer Viertelstunde beendet war, sprach Timoschenko kurz zu ihren Anhängern und Vertretern der Medien. „Wir werden uns bald wiedersehen!“, rief sie kämpferisch in die Runde und lachte sichtlich erleichtert über die Entscheidung.
Offenbar hat der Druck der Europäischen Union, die das Verfahren scharf kritisiert hatte, etwas gebracht. Präsident Janukowitsch hat Beobachtern zufolge in den vergangenen Tagen mehrfach mit seinem polnischen Amtskollegen Bronislaw Komorowski telefoniert. Polen, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft führt, hat die Ukraine mit Nachdruck auf die negativen Auswirkungen hingewiesen, die eine Verurteilung Timoschenkos mich sich brächte. Denn Ende des Jahres soll zwischen der Ukraine und der EU ein Assoziierungsabkommen ratifiziert werden, das der Ex-Sowjetrepublik den Weg in die EU öffnen soll.
Wegen des Prozesses steht die schnelle Unterzeichnung des Abkommens nun auf dem Spiel. Auch die deutsche Bundesregierung mahnte die Ukraine immer wieder zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards. Diese seien Voraussetzung für die Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine. Das heißt: Vor dem Timoschenko-Urteil gibt es definitiv keine Ratifizierung des Vertrages. Man wolle zwar weiterverhandeln, aber die Unterzeichnung werde sich verschieben.
Timoschenko steht seit dem 24. Juni vor Gericht. Der Vorwurf lautet auf Amtsmissbrauch: Während ihrer Zeit als Ministerpräsidentin soll sie 2009 einen für die Ukraine ungünstigen Gas-Vertrag mit Russland ausgehandelt haben, der Ukraine sei dabei ein Schaden in Höhe von 132 Millionen Euro entstanden. Obwohl das Gericht seit fast drei Monaten täglich mehr als zehn Stunden verhandelt, ließen sich diese Punkte nicht beweisen. Im Gegenteil, offenbar hat sich die Anklage auf Zeugenaussagen und Beweisstücke gestützt, deren Glaubwürdigkeit zweifelhaft bleibt.
Die dänische Sektion des Helsinki-Komitees für Menschenrechte hat den Prozess gegen Timoschenko in einem Mitte August veröffentlichten Bericht aufs Schärfste kritisiert und wirft der ukrainischen Führung einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit und die Missachtung internationaler Rechtsnormen vor. Laut der Analyse hätte es die Anklage gegen Timoschenko gar nicht geben dürfen. „Die Vorwürfe sind unklar definiert, die Ermittlungen sind nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geführt, die Prozessführung entspricht in großen Teilen nicht den rechtstaatlichen Normen und die Verhaftungen wurden ohne erkennbaren Grund vorgenommen“, heißt es in dem Bericht.
Wie Präsident Janukowitsch auf die Kritik reagieren wird und mit welchem Ende beim Prozess zu rechnen ist, bleibt selbst Experten unklar. „Die Regierungsspitze wird von Oligarchen beeinflusst, das läuft intransparent und hinter verschlossenen Türen ab. Deshalb ist es kaum vorhersehbar“, so Vladimir Fessenko, Direktor am Zentrum für politische Studien, Penta in Kiew, zu bedenken.