Kosovo

Vergeben ohne zu vergessen

In Pristina hat es geregnet, eine dünne Schlammschicht liegt über der Stadt. Dicht drängen sich die Autos durch die engen löchrigen Straßen. Sie spritzen Wasser auf, wenn sie durch die zahlreichen Pfützen fahren. Viele Wege sind unbefestigt, überall gibt es halbfertige Baustellen und Sandhügel. Pristina ist nicht wirklich eine Großstadt, dennoch sind die Straßen ständig verstopft, vor allem dann, wenn mal wieder die Ampeln nicht funktionieren. Das ist typisch für die Hauptstadt des Kosovo. Im Zentrum werden die Geschäftseingänge immer wieder geputzt, denn jeder Besucher trägt Schmutz an seinen Schuhen.

Das Café "Strip Depot" liegt direkt am "Boulevard Mutter Theresa", der Straße, die vor wenigen Wochen mit einem Pflaster aus chinesischem Granit zur neuen Fußgängerzone herausgeputzt wurde. Arben Zharku kommt gerne in diese Kneipe mit der urigen Holztheke und den gemütlichen Couches, um Macchatio zu trinken. "So beginnen wir Kosovo-Albaner gerne unseren Tag", sagt der 26-jährige Theater- und Filmschauspieler. Er liebt Pristina, auch wenn hier jeder Zweite keine Arbeit hat und es manchmal chaotisch zugeht, wenn ab und zu für mehrere Stunden die Strom- und Wasserversorgung ausfällt. In der Stadt leben viele junge Menschen, die Bars und Kneipen sind voll. Die uniformierten KFOR-Soldaten sind fast vom Straßenbild verschwunden. 

Zharku hatte schon Angebote, in Deutschland oder Irland zu arbeiten, doch er hat stets abgelehnt, denn es geht ihm gut im Kosovo. Kein Wunder, mit einem Monatseinkommen von etwa 800 Euro zählt er hier zu den Reichen. Dass die Unabhängigkeit des Kosovo zum Greifen nah ist, freut Zharku - jedoch nicht übermäßig. Politik ist für ihn, wie für viele andere junge Albaner Nebensache. "Klar ist die Unabhängigkeit wichtig für unser Volk, aber vor allem aus psychologischer Sicht", meint der Schauspieler. Das größte Problem sei die Armut und die werde nicht verschwinden. "Alle denken, jetzt kommt ein Geldregen. Woher? Du musst dir hier alles selbst erarbeiten, so habe ich es auch gemacht, von diesem Staat wirst du nichts bekommen."

500 Meter weiter in nordöstlicher Richtung ist die Armut deutlich spürbar. Auf dem Basar von Pristina drängen sich die Händler. Sie verkaufen Obst, Gemüse, Schuhe, Schmuggel-Zigaretten und Haushaltsgegenstände wie Taschenlampen oder Duschköpfe. Viele breiten ihre Waren auf einfachen Holzkisten aus, oder auf dem Boden, wie Hassan Gashi. Der 71-Jährige trägt eine Strickjacke und die für Albaner typische weiße Kappe. Er bietet Milch in großen Plastikkanistern an und Frischkäse in Eimern. Er verkauft nicht viel, verdient gerade einmal 80 Euro im Monat. Früher hatte Gashi zwei Kühe, doch die hat er verloren, als er 1999 vor der serbischen Armee nach Albanien geflohen ist. Seit seiner Rückkehr muss er die Milch bei anderen Bauern kaufen und das verringert den Gewinn.

Wie viele Kosovaren hat auch Gashi Freunde im Krieg verloren, das hat tiefe Wunden bei ihm hinterlassen. Dass die albanische Führung nun die Unabhängigkeit erklärt hat, hält er für eine Selbstverständlichkeit. "Da gibt es nichts mehr zu verhandeln, schon gar nicht mit Serbien oder Rusland." Gashi hofft nun, seinen Lebensabend in Frieden verbringen zu können und dass es mit dem Land bergauf geht, dass die Menschen mehr verdienen und auch mehr bei ihm einkaufen. "Es kann nur noch besser werden, denn wir hatten jetzt neun Jahre lang die UNMIK im Kosovo, die haben doch nichts für unser Land getan, sind doch nur in ihren dicken Jeeps hier herumgefahren." Ob er die Serben hasst und sich wünscht, dass sie das Kosovo verlassen? "Nein.", sagt Gashi. Er habe kein Problem, mit ihnen zusammenzuleben. Er sei auch bereit, zu vergeben, doch vergessen könne er nicht.

Die Arbeitslosigkeit ist ein großes Problem im Kosovo. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Experten schätzen, dass sie bei 40 bis 60 Prozent liegt. Vor allem junge Leute sind betroffen, Jugendliche machen im Kosovo etwa die Hälfte der Alterspyramide aus. Jedes Jahr drängen knapp 40 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Rudina Krasniqi macht sich Gedanken über ihre Zukunft, sie steht kurz vor dem Abschluss ihres Medizinstudiums. Stellen für Ärzte sind rar.

Rudina kennt viele Absolventen, die entweder zu Hause bleiben oder in anderen Bereichen arbeiten. Diejenigen, die einen Job als Arzt finden, verdienen in der Regel nicht mehr als 200 Euro im Monat. Viele arbeiten deshalb von früh bis zum Nachmittag im Krankenhaus und empfangen am Abend noch Privatpatienten, um ihr Gehalt aufzubessern. Rudina geht davon aus, dass sie nach dem Studium weiter zu Hause bei ihren Eltern bleibt, denn eine eigene Wohnung wird sich die 26-Jährige nicht leisten können.

"Man zieht erst aus, wenn man heiratet", sagt die hübsche Kosovo-Albanerin mit den langen braunen Haaren. "Ich hoffe, dass ich einen Mann finde, der so viel verdient, dass es für ein normales Leben reicht, ohne besondere Extrawünsche." Rudina erwartet viel von einem unabhängigen Kosovo. Sie hofft, dass die Wirtschaft im Land langsam wachsen wird, dass es mehr Wohlstand und mehr Arbeit geben wird.

Zehn Kilometer südlich von Pristina liegt die serbische Enklave Gracanica. Ein schlammiger Feldweg mit Schlaglöchern führt ins Dorf Lapje Selo. Hier sind die Häuser nicht nur unverputzt, wie anderswo im Kosovo, sie sind seit Jahren nicht mehr renoviert. Das Ehepaar Nikolic wohnt mit drei Kindern, einem Großvater und einer Großmutter in einem zweistöckigen Haus. Nur das Erdgeschoss ist bewohnbar ausgebaut, für den Rest hat das Geld nicht gereicht. Jovica Nikolic ist seit Ende des Kosovo-Kriegs 1999 arbeitslos, seitdem sich die serbische Armee aus dem Kosovo zurückgezogen hat.

"Nach dem Krieg konnten wir Serben nicht mehr arbeiten, die Albaner haben uns nicht gelassen", sagt Nikolic. Er war früher als Maschinist in einem Kraftwerk in Pristina beschäftigt. Doch seit acht Jahren war er überhaupt nicht mehr in der Stadt. Dort leben fast nur noch Albaner, es sei ihm zu unsicher, sich dort aufzuhalten. Seine Frau Jadranka erzählt, dass sie einmal von einer albanischen Verkäuferin als "serbisches Schwein" beschimpft wurde. Seitdem bleibt auch sie fast ausschließlich in ihrem Dorf. Wichtige Einkäufe erledigt sie nur noch in Begleitung einer UN-Mitarbeiterin, auf deren Kinder sie mal aufgepasst hat.

Die Nikolics bekommen von Serbien 300 Euro Unterstützung monatlich. Davon können sie sich allerdings nur das Nötigste kaufen. Sie bauen Kartoffeln und Gemüse in ihrem Garten an, halten ein paar Schweine und Hühner. Jovica Nikolic macht Reparaturarbeiten bei seinen Nachbarn und verdient sich dadurch ein wenig Geld dazu. "Ein Leben ist das nicht", sagt Jadranka Nikolic. "Es ist monoton, seit acht Jahren verlassen wir unser Dorf kaum noch. Das einzige, was dich erfüllt ist, dass die Kinder in die Schule gehen und lernen."

Doch auch die Schule ist nicht mehr das, was sie einmal war. Das Schulgebäude ist stark heruntergekommen und verschmutzt. Im Winter frieren die Kinder, weil es keine Heizung gibt. Trotz dieser schwierigen Umstände würden die Nikolics gerne weiter in Lapje Selo bleiben. Gegen Albaner habe sie nichts, sagt Jadranka Nikolic. "Ich hasse niemanden. Als das Fernsehen gezeigt hat, wie ein Albaner das Kreuz von einer serbischen Kirche heruntergerissen hat, da habe ich zu meinem Sohn gesagt: Das ist ein Verrückter, ein normaler Mensch würde so etwas niemals tun. Ich habe nicht gesagt, dass es ein Albaner war." 

Die Familie versucht, möglichst wenig über Politik zu reden, vor allem nicht mit den Kindern, zu frustrierend sei das Thema. Was ist, wenn das Kosovo nun tatsächlich unabhängig werden sollte? Diese Frage macht Jovica Nikolic ratlos. "Ich glaube noch nicht daran. Wir haben schon immer in diesem Dorf hier gelebt, es war schon immer Serbien. Ich habe keine Ahnung was passiert. Was kann ich tun? Wenn hier alle gehen, dann werden auch wir gehen."


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