Litauen

Eine Supermarktkette als AKW-Betreiber

"Das ist der Skandal des Jahrhunderts!" Die Litauer sind von ihren Politikern eine ganze Menge gewohnt, aber das schlägt dem Fass den Boden aus: Fassungslos schütteln aufgebrachte Bürger vor dem Präsidentenpalais in Vilnius die Köpfe, in den litauischen Internetforen quellen die Leserbriefspalten nur so über, und auf den Straßen und Plätzen sowie in den Wohnzimmern und Büros des Landes gibt es dieser Tage nur ein einziges Gesprächsthema: Staatspräsident Valdas Adamkus hat seine Unterschrift unter das umstrittenste Gesetzesprojekt der letzten Jahre gesetzt. Noch am Donnerstag vergangener Woche hatten tausende Demonstranten vor dem Präsidentenpalais Transparente und weiße Hemden geschwenkt und das Staatsoberhaupt aufgefordert, von seinem Veto-Recht Gebrauch zu machen und die vom Parlament beschlossene Änderung eines im Juni verabschiedeten Gesetzes doch noch in letzter Sekunde zu kippen. Aber alle Proteste verhallten wirkungslos: "Ja, ich habe das Gesetz unterschrieben. Ich habe viele Meinungen angehört, um nun meine Pflicht tun zu können", sagte Adamkus in Vilnius - und machte damit den Weg für die Gründung des Unternehmens "Leo LT" frei.

"Leo LT" - die ersten drei Buchstaben stehen für "Lietuvos elektros organizacija" (Litauische Stromorganisation), gefolgt von dem Landeskürzel LT für Litauen. Hinter dieser unverfänglich klingenden Abkürzung verbirgt sich eine neue Holding, die neben dem staatlichen Energieunternehmen "Lietuvos Energija" auch den ebenfalls staatlichen ostlitauischen Stromnetzbetreiber "RST" und den 2003 privatisierten westlitauischen Stromnetzbetreiber "VST" umfassen soll. Aber es ist weniger die Gründung dieses Unternehmens an sich, die einen tiefen Graben quer durch die ganze Nation zieht. Zum einen wird "VST" von dem Unternehmen "NDX Energija" kontrolliert, und dahinter verbirgt sich niemand anderes als "Maxima", die frühere "Vilniaus prekyba (VP)" und größtes Einzelhandelsunternehmen des Landes, das von zehn Unternehmern kontrolliert wird. 

Diese "VP dešimtukas", "Die Zehn von VP", wie sie in Litauen nur noch genannt werden, erhalten nun 38,3 Prozent an Leo LT, und das ohne Ausschreibung oder Auswahlverfahren - selbst regierungstreue Litauer fragen sich mittlerweile, ob da wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Und zum anderen soll "Leo LT" das seit Jahren heiß diskutierte Projekt eines neuen Atomkraftwerks vorantreiben. Diese Idee freilich ist nicht neu. Im Osten des Landes, nahe der Stadt Visaginas am Dreiländereck mit Lettland und Weißrussland, erheben sich die zwei Blöcke des Atomkraftwerks "Ignalina". Die Reaktoren vom Typ Tschernobyl gelten trotz mehrfacher Nachrüstung nach Ansicht westlicher Experten als unsicher, die Schließung des Kraftwerks wurde von der Europäischen Kommission zur Bedingung für einen EU-Beitritt Litauens gemacht. Trotz lautstarker Proteste willigte Vilnius am Ende zähneknirschend ein, Block eins wurde 2005 heruntergefahren, Block zwei soll 2009 folgen. Aber was dann? "Ignalina" liefert einen Großteil des litauischen Stroms, nach Alternativen in Form von Energiesparen oder erneuerbaren Energien wurde in den letzten Jahren kaum gesucht, obwohl der Termin der Abschaltung gnadenlos näher rückt. Da schien es die einfachste Lösung, eben ein neues AKW am selben Standort zu errichten. Die Argumente waren rasch bei der Hand: Die Facharbeiter und Wissenschaftler sind bereits vor Ort vorhanden und von Arbeitslosigkeit bedroht. Estland und Lettland kündigten umgehend an, sich an dem Projekt beteiligen zu wollen - schließlich fürchtet man auch dort kaum etwas so sehr, wie die erneute energiepolitische Abhängigkeit von Russland.

Unterdessen ist es nicht die Frage der Kernenergie an sich, die in Litauen für Kontroversen sorgt. Das Problem der Endlagerung war auch bisher nicht gelöst, und die wenigen Kernkraftgegner werden rasch mit dem Argument mundtot gemacht, dass ohne neues AKW ab 2009 in Litauen alle Lichter ausgehen. Erste kritische Stimmen mehrten sich, als nicht nur Estland und Lettland, sondern auch Polen mit ins Boot genommen wurde - sollte Litauen wirklich ein neues teures Kraftwerk bauen, um am Ende lediglich billigen Strom für die Nachbarn zu liefern? Aber auch hier hatten Befürworter des Projekts rasch ein Argument bei der Hand: Nur durch eine Einbindung Polens werde Warschau endlich einwilligen, eine Stromleitung über die Grenze zu bauen, und damit endgültig die energiepolitische Isolation Litauens durchbrechen. Was aber ist dann das Problem? Die radioaktive Bedrohung spielt in der Debatte kaum eine Rolle, eine Beteiligung der "Zehn von VP" und eine Einbindung Polens als Gegenleistung für den Bau einer Stromanbindung an Westeuropa - diese Kröten würden die Litauer vielleicht am Ende noch schlucken. Die Hauptangst ist vielmehr, dass das Atomkraftwerk am Ende gar nicht gebaut wird. Könnte es nicht sein, dass "Die Zehn von VP" in Wirklichkeit einfach nur ihren Einfluss nutzen und am Ende den Bau von Gaskraftwerken vorantreiben, die dann doch wieder von Russlands "Gazprom" beliefert werden? "Dann steigen die Strompreise, das heizt die Inflation an, und Litauen erfüllt die Maastricht-Kriterien zur Einführung des Euro nicht", erklären die Gegner des neuen Gesetzes, die mit dem Slogan "Kein Verkauf" unter der Internetadresse www.culture.lt/neparduok Unterschriften sammeln. In der Tat, billig wird der Spaß nicht: Bis zu 1.000 Litas (290 Euro) könnte der Vertrag mit den "Zehn von VP" jeden Steuerzahler am Ende kosten, rechnet beispielsweise Finanzanalyst Liutauras Armanavicius vor. Mit Atomenergie habe der Deal ohnehin nicht allzu viel zu tun: "Nirgendwo in dem Gesetz steht, dass ernsthaft über den Bau eines AKW geredet wird - vielmehr wird es am Ende zu einem Tausch von VST- gegen RST-Aktien kommen", so Armanavicius. Dann würden "Die Zehn von VP" nicht nur ein Einzelhandelsimperium, sondern auch einen Stromkonzern kontrollieren und endgültig zum Staat im Staat. Zu den Gegnern gehören auch führende Politiker wie Arturas Zuokas, Bürgermeister von Vilnius, und zahlreiche Prominente. Sogar Abgeordnete der Regierungskoalition stimmten im Parlament gegen das Projekt.

Aber Premierminister Gediminas Kirkilas von der Sozialdemokratischen Partei zeigt sich bislang unbeeindruckt von den Protesten: "Es ist durchaus realistisch, dass in Litauen bis 2015 ein neues Atomkraftwerk steht", erklärte er und bezeichnete jeden Versuch, das Projekt zu bremsen, als kontraproduktiv für die Interessen Litauens. Yves Guenon, Vizevorstand des französischen AKW-Bauers und möglichen Auftragnehmers "Areva", äußert sich indes zurückhaltender: "Der Termin 2015 ist nicht realistisch, wahrscheinlicher ist ein Zeitraum zwischen 2015 und 2020." Was aber passiert dann nach 2009? Diese Frage können auch die eifrigsten Verfechter eines Ausbaus der Atomenergie nicht beantworten. Die Gegner planen als Nächstes einen Gang vors Verfassungsgericht, und damit ist zumindest eines sicher: Die Debatte um die Nutzung der Atomenergie und die energiepolitische Zukunft Litauens dürfte mit der Gründung von "Leo LT" kaum abgeschlossen sein.


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