Rosas Furcht vor der nächsten Nacht
Es ist eiskalt in der russischen Kirche. Ihre Kuppel glänzt nicht golden, sondern wittert schwarz vor sich hin. Das Tor quietscht in den Angeln, im Innenraum gibt es weder eine Ikonenwand noch Bänke. Dafür ein paar an die Wand gepappte Heiligenbilder, auf dem gesprungenen grauen Steinfußboden eine alte Pritsche mit Decken und gleich daneben einen Emaille-Krug. Hier wohnt Rosa Hambaryan, 79 Jahre alt. Die alte russische Kirche, gebaut noch zu Zeiten des russischen Zaren Nikolaus, steht in mehr als 1500 Metern Höhe auf dem Hügel der Ehre, am Rande Gjumris, der mit 130.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt Armeniens. Einst hieß sie Alexandropol, später Leninakan, aber das ist lange her.
Rosa Hambaryan in ihrer Unterkunft, einer Kirche. / Thilo Folesky, n-ost
Vor der Unabhängigkeit Armeniens von der Sowjetunion arbeitete Rosa Hambaryan in einer großen Textilfabrik, die seit dem schweren Erdbeben von 1988 als Ruine vor sich hin rottet. Über 25.000 Menschen starben damals, die Industrie des Landes versank in Trümmern und wurde nie wieder aufgebaut. Rosa verlor an jenem 7. Dezember alles. "Die Hälfte meiner Familie starb damals. Der Plattenbau, in dem ich wohnte, fiel zusammen wie ein Kartenhaus." Um in den schicken neuen Häusern, gebaut von westlichen Hilfsorganisationen, eine Wohnung zu bekommen, brauchte man gute Beziehungen zur Nomenklatura. Die hatte Rosa nicht. Ebenso wenig wie jene mehrere hundert Familien, die heute, 20 Jahre nach dem Erdbeben, immer noch in Container-Siedlungen am Rand der Stadt wohnen.
So wie Tamara Harutunjan, deren Lunge pfeift und röchelt wie eine defekter Blasebalg. "1000 Dollar mussten wir damals zahlen, damit wir überhaupt diesen Container hier bekamen. Nun leben wir schon zwei Jahrzehnte in diesem Provisorium. Zweieinhalb Zimmer für sechs Menschen, kein fließendes Wasser und abends scheuchen wir die Ratten aus dem Schlafzimmer." Die Harutunjans haben sich eingerichtet. Vor den dünnen Blechwänden hängen Teppiche. Doch auch die können die Kälte nicht abhalten. Über dem bullernden Kanonenöfchen schmilzt der Schnee auf dem durchgerosteten Dach. Wasser tropft an verschiedenen Stellen ins Zimmer. Anders als Rosa konnte Tamara Harutunjan damals wenigstens ihre Unterlagen aus den Trümmern der vom Erdbeben zerstörten Wohnung retten. So erhält sie heute umgerechnet 43 Euro Rente. Davon leben sie, ihre arbeitslose Schwiegertochter und die drei Enkel. Der Sohn versucht gerade, in Russland Arbeit zu finden. Denn allein 32 Euro zahlen die Harutunjans jeden Monat für das Brennholz.
Alte Menschen bessern als Markthändler ihre Rente auf. / Thilo Folesky, n-ost
Rosa hat in ihrer alten Kirche kein Holz und nicht einmal einen Ofen. Und sie hat niemanden, den sie um Hilfe bitten könnte. "Eine gewisse Zeit lebte ich in der Wohnung meiner Kinder, doch als die keine Arbeit fanden, gingen sie nach Russland und in die Türkei. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Als die Russen die Gaspreise verdoppelten, konnte ich von meiner Rente die Miete nicht mehr zahlen und wurde rausgeworfen." Tagelang irrte Rosa durch die Stadt, bis sie schließlich Zuflucht in der verlassenen Kirche fand. "Barmherzige Nachbarn brachten mir die Pritsche, ein paar Decken und den Emaille-Krug hier, damit ich an dem kleinen Brunnen draußen Wasser holen kann."
Armenien, das älteste christliche Land der Welt, hat nicht viel übrig für seine Alten. Ganze drei Altersheime unterhält der Staat, zwei in der Hauptstadt Jerewan und eins in Gjumri. Alle drei sind überfüllt und die Plätze teuer. Die Durchschnittsrente beträgt derzeit 22.000 Dram, das sind gerade einmal 48 Euro. Rosa aber kann nur fünf Jahre Arbeit in der Fabrik nachweisen, weil seit dem Erdbeben alle ihre Unterlagen verschwunden sind. Deshalb erhält sie nur die Minimalrente von 6800 Dram, rund 14 Euro. Pro Arbeitsjahr kommen noch einmal 395 Dram hinzu, also 86 Cent. "Leider", sagt sie, "habe ich keinen Invalidenausweis. Mit dem gäbe es noch einmal einen kleinen Zuschlag, vor allem aber müsste ich dann den Arzt nicht bezahlen."
300 Menschen kommen täglich in die Armenküche von Gjumri. / Thilo Folesky, n-ost
Einmal am Tag macht sich Rosa auf in die Stadt. "Da gibt es eine Suppenküche, wo ich etwas zu Essen bekomme. Am Wochenende haben die geschlossen. Da esse ich dann eben nichts. " In Rosas Stimme schwingt keine Bitterkeit mehr, nur noch grenzenlose Resignation, hinter der sich das Warten auf einen erlösenden Tod verbirgt. Gäbe es die kleine Armenküche im Zentrum der Stadt nicht, Rosa wäre schon längst verhungert. Auf dem Weg zu der kleinen versteckten Seitenstraße tippelt sie täglich durchs österreichische Viertel, so genannt, weil hier nach dem Erdbeben mit österreichischer Hilfe neue Häuser gebaut wurden. "Es gibt auch ein schwedisches und ein deutsches Viertel", sagt Rosa. "Doch da wohnen nur reiche Leute."
Die mit westlicher Hilfe gebauten Wohnungen sind inzwischen längst eine gute Kapitalanlage für die Beamten, die über ihre Vergabe bestimmen. 3000 bis 4000 Dollar kostet ein Berechtigungsschein. Für 20.000 Dollar kann man im deutschen Viertel eine Wohnung kaufen. Und natürlich gibt es Leute, die inzwischen vier oder fünf Wohnungen besitzen. Im Zentrum Gjumris überquert Rosa eine Straße, die sich jeden Tag in einen lärmenden Markt verwandelt, einen orientalisch anmutenden Basar, auf dem es nach Kaffee riecht, nach Fisch und heißem Eisen. Leisten kann sich Rosa hier nichts. 130 Dram kostet ein Brot, 350 das Kilo Kartoffeln, ein Liter Milch 500 Dram, ein Kilo Käse 1800 Dram. Sie zieht die Schultern ein und schiebt sich mit gesenktem Blick durch all die Geschäftigkeit.
In der Armenküche von Gjumri. / Thilo Folesky, n-ost
Dann öffnet sie eine Tür. Dahinter herrscht Dämmerlicht. An der Stirnseite des Raums hängt eine amerikanische Fahne. Das diffuse Licht der blinden Fenster fällt auf verhärmte Gesichter. Schweigen füllt den Raum, manchmal kratzt ein Löffel auf Geschirr. Hinter dem Tresen steht Valentina Babadjanan mit einem Gesicht, das Rosa stets davon abhält, um einen Nachschlag zu bitten. "300 Menschen kommen jeden Tag hierher und bekommen etwas zu Essen", erklärt die Leiterin der Armenküche resolut. "Etwas Suppe, dann eine kleine Hauptspeise, auch mal Saft. Und im Winter Tee und eine Scheibe Brot. Mehr kann der Bürgermeister nicht tun." Viele in der Stadt glauben die Mär vom Bürgermeister als Wohltäter der Alten. Nur die wenigsten wissen, dass die Stadt kaum einen Dram für sie übrig hat, selbst das Geld für die Suppenküche kommt aus einer armenischen Gemeinde in den USA.
"Ich möchte keine Bettlerin sein", erzählt Rosa, während sie auf ihre Suppe wartet. "Deshalb komme ich hierher und mache mich ansonsten unsichtbar. Oft höre ich in meinen Träumen Stimmen. Wenn es eine helle Stimme ist, dann weiß ich, der Tag wird gut. Mein Großvater war Priester und er hat gesagt, ich soll auf Gott vertrauen. Deshalb dachte ich, die Kirche ist ein guter Ort. Heute Morgen waren meine kleinen Heiligenbildchen mit Eis überzogen. Es war, als würden sie mich durch ein Fenster anlächeln. In meinem letzten Traum habe ich keine helle Stimme gehört. Ich fürchte, es wird sehr kalt werden in der kommenden Nacht." Rosa löffelt mit zitternder Hand, langsam, sehr langsam, fast in Zeitlupe. Nur kurz dürfen sich die Alten in der Suppenküche aufhalten. "Es sind zu wenig Plätze, als dass wir uns hier wirklich aufwärmen und miteinander reden könnten", meint Rosa. "Aber es reicht, um einmal am Tag warme Füße zu bekommen."