Litauen

Leben im Reservat

Ein Sonnenuntergang am Meer, wie er schöner kaum sein könnte: Die See ist spiegelglatt, der Sandstrand fast menschenleer, eine sanfte Brise streift durch Dünen und Wälder. Wer hier auf der Kurischen Nehrung an der litauischen Ostseeküste weilt, wähnt sich unweit des geografischen Mittelpunkts Europas in einem geradezu vergessenen Paradies. Die Nehrung, eine 96 Kilometer lange Landzunge zwischen dem Kurischen Haff und der Ostsee, ist nur zwischen 400 Metern und knapp vier Kilometern breit. 52 Kilometer davon gehören zu Litauen, der übrige Teil zum russischen Gebiet Kaliningrad.

Die Nehrung besteht fast ausschließlich aus Sand und trägt aufgrund ihrer riesigen Wanderdünen auch den Namen "ostpreußische Sahara". Ihre einmaligen Naturschönheiten sind bis weit über die Grenzen Litauens hinaus berühmt, beispielsweise die große Düne bei Nida. Nicht zuletzt die Unzugänglichkeit der Nehrung zu Sowjetzeiten - große Teile der baltischen Ostseeküste waren militärisches Sperrgebiet - hat dazu beigetragen, die Natur weitgehend im Urzustand zu belassen.

Bis auf eine Handvoll kleiner Ortschaften ist die Nehrung nach wie vor so gut wie menschenleer geblieben. Dieses Paradies sollte nicht zerstört werden, darin war man sich in Litauen nach der Wende einig. Also wurde 1994 ein Regierungsplan für die Nehrung mit strengen Vorschriften verabschiedet, seit 2000 gehört die Nehrung sogar zum Weltnaturerbe der UNESCO, was für eine weitere Verschärfung der Gesetze gesorgt hat. Diese wurden indes nicht immer so streng eingehalten, wie es die Behörden gerne gesehen hätten: Mittlerweile sind rund 30 Klagen bei litauischen Gerichten anhängig, die meisten wegen Übertretungen der Bauvorschriften.

Ein Fall landete am Ende aufgrund hartnäckiger Ermittlungen der Staatsanwaltschaft der nahe gelegenen Hafenstadt Klaipeda am Ende sogar vor dem obersten litauischen Verwaltungsgericht in Vilnius - mit Erfolg: Das Projekt musste endgültig gekippt werden, eine Revision ist nicht möglich. "Das ist der erste wichtige Sieg unserer Behörde bei dem Bestreben, die bestehenden Gesetze durchzusetzen, die die Bebauung der Kurischen Nehrung betreffen", freut sich Ignas Laucius, oberster Staatsanwalt des Bezirks Klaipeda.

In der Tat könnte das Urteil aus Vilnius zum Präzedenzfall für die weiteren offenen Klagen werden und das Steuer beim Kampf gegen die illegale Bebauung herumreißen. Aber die strengen Gesetze betreffen nicht nur touristische Prestigeprojekte und Luxusbauten, sondern auch den Alltag der einfachen Bürger. Wer nur einen Hühnerstall oder ein Plumpsklo in seinem Garten errichten will, braucht dafür eine Genehmigung, und die ist fast nicht zu bekommen. Es fehlt an Sozialwohnungen für einkommensschwächere Einwohner, die Kinder benötigen eigentlich eine neue Schule, und an den Neubau einer Kirche ist gar nicht erst zu denken.

Die Gesetze schränken indes nicht nur die Errichtung neuer Bauten ein. Mal eben in den Wald gehen, um Beeren oder Pilze zu suchen, wie es in ganz Litauen Volkssport ist? Fehlanzeige: Das Verlassen der Wege ist streng verboten, um die empfindliche dünne Pflanzendecke auf den Dünen zu schützen. Eine Zigarette zwischendurch? Nichts da: Die Rauchverbote auf der Nehrung gehören zu den strengsten in ganz Litauen. Die Wälder sind im Sommer trocken wie Zunder, zuletzt wurden im Mai 2006 über 200 Hektar Wald Opfer der Flammen. An Grillen im Freien ist in diesem Teil der Schaschlik-Nation Litauen unter solchen Umständen natürlich gar nicht erst zu denken.

"Wir verstehen, dass wir in einem wertvollen Gebiet leben, aber wir sind auch der Ansicht, dass die Regierung dieses Landes unsere Interessen ignoriert und sich nicht mit den kommunalen Behörden abspricht", formuliert inzwischen eine Bürgerinitiative die Sorgen der Einheimischen und ruft zum Widerstand auf: Alle Nehrungsbewohner sollen ihre Unterschrift unter eine Petition setzen, die an den Staatspräsidenten, die Regierung und sogar an das UNESCO-Büro in Paris gehen soll. Mehrere hundert Bürger sind dem Aufruf bereits gefolgt, um sich - so der Text des Papiers - gegen die "drohende Isolation" der Nehrung zu wenden.

Es gehe nicht um ein Nein zum Umweltschutz oder gegen die Aufnahme der Nehrung ins Weltnaturerbe der UNESCO, sondern um fehlende Absprachen der Zentralregierung in Vilnius, die die Kompetenzen der lokalen Behörden immer weiter beschneide und damit den Menschen das Leben schwer mache, monieren die Initiatoren. Die Lehrerin Aldona Balseviciene aus der Nehrungs-Ortschaft Juodkrante hat bereits ihre Unterschrift unter die Petition gesetzt. "Das ist die einzige Möglichkeit, die Aufmerksamkeit auf die anomale Situation auf der Nehrung zu lenken, wo die Gesetze von oben kommen, ohne dass die Behörden vor Ort überhaupt informiert werden", empört sie sich. Am meisten stört sie sich an der Tatsache, dass die Gesetze vor allem die einfachen Leute betreffen.

In der Tat lässt sich eine gewisse Doppelzüngigkeit beobachten: Geht es nämlich um Genehmigungen für den Ausbau teurer Ferienanlagen, sind die Behörden deutlich großzügiger, denn der Tourismus bringt Geld. Und die reiche Oberschicht, die hier bevorzugt ihren Urlaub verbringt hat die besseren Kontakte nach Vilnius. Der Streit um die Kurische Nehrung zieht indes immer weitere Kreise. Längst ist das Naturschutzgebiet in Litauen nicht mehr nur das Synonym für ein einzigartiges Ferienparadies, sondern wird immer mehr zum Politikum.

Die Wogen zwischen der Zentralregierung und radikalen Umweltschützern auf der einen Seite und Nehrungsbewohnern auf der anderen Seite schlagen immer höher. "Die Nehrung kann nicht eine Art Indianerreservat werden", sagt Paulius Kavaliauskas, Professor für Geografie an der Universität Vilnius, und weiter: "In der letzten Zeit hat eine Bewegung Zulauf erhalten, die man geradezu als Ökoterrorismus bezeichnen könnte." Auch Gražina Lygnugariene, Direktorin der staatlichen Bauinspektion, zeigt sich nicht eben glücklich über das nun gekippte Bauprojekt auf der Nehrung. Dass die Kläger am Ende Erfolg vor dem Verwaltungsgericht hatten, war allein dem Hinweis auf die Verletzung bestimmter Details zu verdanken, die in Widerspruch zu dem 1994 verabschiedeten Regierungsplan für die Nehrung standen.

"Wenn es möglich wäre, wäre ich durchaus dafür, einige Passagen in diesem Plan zu streichen", seufzt sie. Anders sieht es Ruta Baškyte, Direktorin der staatlichen Umweltschutzbehörde, und sie fordert die Bewohner der Nehrung, die Kirche Dorf zu lassen: "Eigentlich könnten die Bewohner von Vilnius noch viel lauter schreien, denn ihre Altstadt steht ebenfalls auf der UNESCO-Liste für Weltkulturerbe - und zwar tatsächlich unter der Bezeichnung 'Reservat'."


Weitere Artikel