„Wir brauchen unsere Filme nicht mehr zu verstecken“
Das diesjährige Filmfestival Cottbus setzt im Vorfeld der Euro 2012 in der Sektion „Fokus“ einen Schwerpunkt auf Produktionen aus Polen und der Ukraine. Freuen Sie sich auf dieses Fußballspektakel?
Leszek Dawid: Ich bin kein großer Fußballfan und es wäre gelogen, dass ich es kaum erwarten kann. Aber es ist eine Chance für unser Land, ein gutes Bild abzugeben. Ich hoffe, das gelingt.
Erst vor kurzem hat die Welt nach Polen geschaut, die jüngsten Wahlen waren eine Überraschung. Janusz Palikots neue Protestpartei „Ruch Palikota“, die sich für die Homo-Ehe einsetzt und den Einfluss der Kirche im Staat reduzieren will, hat zehn Prozent der Stimmen gewonnen. Befindet sich die polnische Gesellschaft in einem Umbruch?
Dawid: Nein, zumindest kann ich so etwas derzeit nicht beobachten. Janusz Palikot hatte nicht viel zu verlieren und konnte im Wahlkampf sehr mutige Sachen sagen. Ich glaube, seine Partei hat wegen ihrer radikal antireligiösen Haltung so viele Stimmen bekommen. Alle, die mit der Linken unzufrieden waren oder gegen die Kirche sind, haben „Ruch Palikota“ gewählt.
In ihrem Spielfilmdebüt „Ich heiße Ki” geht es auch um Unzufriedenheit. Sie porträtieren darin eine chaotische Alleinerziehende in Warschau. Ki sehnt sich nach einem unbekümmerten Leben, muss aber Geld verdienen. Hält sich in Polen das Klischee der „Frau hinter dem Herd“?
Dawid: Es herrscht zwar immer noch die Meinung, dass Mütter ihre Arbeit aufgeben sollten, um die ganze Zeit mit den Kindern zu Hause zu sein. Aber auch die Polen denken langsam um. Es gibt mittlerweile Cafés und Buchhandlungen, in denen sich Erwachsene auch mit Kindern aufhalten können. Übrigens liebe ich Berlin ganz besonders dafür, dass Familien und junge Mütter dort am öffentlichen Leben teilhaben können.
Was für ein Mensch ist „Ki”?
Dawid: Es ist schwierig, ihren Charakter zu beschreiben und deshalb habe ich diesen Film gedreht. Ich wollte sie dadurch besser kennen lernen. Einerseits hat sie kein klares Ziel vor Augen und ist trotzdem arrogant, das wirkt sehr irritierend. Andererseits ist sie manchmal sehr entschlossen, sagt, was sie denkt und zeigt, was sie fühlt. Das hat mich an dieser Figur fasziniert.
Sie haben für Ihre Dokumentarfilme schon viele Preise erhalten. „Ich heiße Ki“ ist Ihr Spielfilmdebüt. Was reizt Sie am Filmemachen?
Dawid: Auf jeden Fall nicht die Rekonstruktion von Bekanntem. Mich interessiert die Welt, die ich im Film beschreibe. Das kommt von meiner Arbeit als Dokumentarfilm-Regisseur. Wenn ich einen Spielfilm drehe, lerne ich eine neue Welt und ihre Charaktere kennen. Zu drehen, bedeutet für mich, die Welt zu begreifen.
Sie wollten mit „Ki“ auch Diskussionen provozieren. Wen wollen Sie zum Sprechen bringen?
Dawid: Niemand bestimmten. Ich will keine politische Debatte entfachen. Mir geht es um Diskussionen über ganz grundlegende Sachen. Wir reden einfach zu wenig. Ich möchte Menschen, egal ob Freunde oder Zuschauer, emotional so berühren, dass sie sich öffnen.
In vielen polnischen Filmen vergangener Jahre wie „Galerianky“ oder „Made in Poland“ ist das Fehlen starker Väter auffällig. Es sind die Frauen, die Vorbildfunktion haben, die Familie ernähren und alles am Laufen halten...
Dawid (lacht): Ja, das ist tatsächlich das Bild, das entsteht. Auch Anton, der Vater von Kis Sohn, hat große Angst vor dem Vatersein. Denn er hat viel zu verlieren. Aber ich weiß nicht, ob sich das geografisch auf Polen oder Osteuropa begrenzen lässt. Wir Männer sind doch eigentlich die Schwachen. Die Frauen sind im Leben viel stärker.
„Ki” wurde auf dem Filmfestival von Venedig gezeigt. Was bedeutet es da für Sie, auch nach Cottbus eingeladen worden zu sein?
Dawid: Es freut mich sehr, dass mein Film im Cottbuser Wettbewerb gezeigt wird, egal ob er vorher in Venedig war oder nicht. Trotzdem mag ich Festivals nicht so gern wegen der ständigen Vergleiche und der Konkurrenzsituation. Aber Festivals sind ein wundervoller Ort, um Filme zu zeigen, die Zuschauer zu treffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wenn ein Film im Kino läuft, bekommt man zwar die Besucherzahlen mitgeteilt, aber man erfährt nicht, was die Menschen fühlen.
Welchen der vielen polnischen Filme, die in Cottbus gezeigt werden, würden Sie empfehlen?
Dawid: Leider kenne ich nicht alle, aber sehr sehenswert ist beispielsweise „Twist and Glory” von Kuba Czekaj. Er ist ein sehr talentierter Nachwuchsregisseur, der besondere Filme mit einer eigenen Sprache dreht. Auch „Suicide room” von Jan Komasa hat starke Bilder und ist etwas für Eltern und Kinder, die sich mit dem Thema „Computersucht“ auseinandersetzen wollen.
Auch andere junge Polen wie Katarzyna Roslaniec, Pawel Borowski oder Xawery Zulawski haben zuletzt ungewohnte Bilder auf die Leinwand gebracht. Vorletztes Jahr lockten sie rund 40 Millionen Polen in die Kinos, so viele wie seit Jahrzehnten nicht.
Dawid: Ja, polnische Regisseure fangen an, über Themen zu reden, die den Polen wichtig sind. Es scheint, als ob das polnische Publikum sich wirklich für die Geschehnisse im Land und die Gegenwartsgesellschaft interessiert. Die Menschen gehen ins Kino und schauen sich selbst an.
Da hat es doch sicher geholfen, dass in den vergangenen Jahren das Polnische Filminstitut und elf regionale Filmfonds gegründet wurden.
Dawid: Die Gründung des Polnischen Filminstitutes war ein riesengroßer Schritt nach vorn. Vor allem Debütanten profitieren von einem neuen Denken, das dem Film eine wichtige Rolle zuweist. Sie haben heute viel mehr finanzielle Möglichkeiten als früher, um einen Film zu drehen.
Wenn die Finanzierung kein Problem mehr ist, wo liegen dann die größten Herausforderungen für polnische Nachwuchsregisseure?
Dawid: Geld ist noch ein Problem, aber kein so großes mehr wie früher. Was besonders fehlt, sind Drehbücher für Spielfilme, weil das Schreiben von Drehbüchern finanziell nicht lukrativ ist. Die Regieabsolventen können nur selten sofort mit ihrer Arbeit beginnen. Oft müssen sie erst einmal ihre eigenen Drehbücher schreiben. Einschließlich weiterer Vorbereitungen sind sie nach ihrem Abschluss erst einmal vier bis fünf Jahre beschäftigt, bevor sie überhaupt ihren ersten Film drehen können.
Trotzdem sieht man auf den internationalen Filmfestivals immer mehr polnische Filme.
Dawid: Das ist ein Ergebnis der Förderung einheimischer Produktionen durch das Polnische Filminstitut. Unsere Filme behandeln zudem immer häufiger globale statt lokale Themen in einem lokalen Kontext. Und sie sind auch noch anspruchsvoll gemacht. Wir brauchen unsere Filme nicht mehr zu verstecken.
Zur Person:
Leszek Dawid wird 1971 in der polnischen Kleinstadt Kluczbork geboren. Von 1998 bis 2003 studiert er Sprachen, anschließend Regie an der Filmhochschule in Lodsch. Seit seinem Abschluss unterrichtet er dort im Fachbereich Regie. Leszek Dawid hat an zahlreichen Spielfilm-, Theater- und TV-Projekten mitgewirkt. Für seine Dokumentarfilme wurde er im In- und Ausland bereits mehrfach ausgezeichnet. Der Filmemacher ist mit der polnischen Regisseurin Anna Kazejak-Dawid verheiratet und hat zwei Kinder. In Cottbus ist Leszek Dawids erster Langspielfilm „Ich heiße Ki” im Wettbewerb zu sehen. Zurzeit arbeitet der Regisseur an seinem neuen Film „Du bist Gott” („Jesteś Bogiem“). Es geht darin um den Sänger der sehr erfolgreichen polnischen Hip-Hop-Band „Paktofonika“, der mit 21 Jahren Selbstmord begangen hat.