Kroatien

Das Dorf der einsamen Alten

Lässt man die glitzernden Einkaufstempel der Hauptstadt Zagreb hinter sich, wird die Straße nach anderthalb Stunden Fahrt in Richtung bosnischer Grenze immer holpriger. Entlang der Fahrbahn warnen Schilder vor Landminen aus dem jüngsten Bürgerkrieg (1991-1995), ebenso wie die verlassenen Geisterdörfer, deren Besitzer nach den Kämpfen nicht mehr zurückgekehrt sind. Die Poststation im Dörfchen Blinjskij Kuk gaukelt nur an der frisch gestrichenen Eingangsfassade Normalität vor. Im Rückspiegel bleibt die von Einschusslöchern zersiebte Seitenwand des Gebäudes zurück. Kurz vor Sjeverovac wird die Schotterstraße steiler.

Ohne Schneeketten geht hier im Winter nichts mehr, während einsame Traktoren die Straße im Sommer in dicke Staubwolken hüllen. Sjeverovac wirkt vergessen. Ein Dutzend Häuser reihen sich am schmalen Feldweg entlang, auf dem keine zwei Autos aneinander vorbei passen. Müssen sie vermutlich auch gar nicht, denn in Sjeverovac gibt es nur einen einzigen Autobesitzer.Das ziegelrote Haus auf der Anhöhe scheint auf neuen Verputz zu warten.

Einige Hühner gackern aufgeregt über den Hof. Hinter den vergilbten Vorhängen taucht ein zerfurchtes Gesicht auf, kurz darauf wird die Holztür aufgestoßen. "Ich dachte schon, es sei mein Sohn", sagt Dragica Radojevic und wirkt dabei ein wenig enttäuscht. Es dauert einige Sekunden, bis sie sich zurechtgefunden hat. Die 77-Jährige rückt sich die schwarze, fingernageldicke Brille zurecht. "Ich sehe sehr schlecht", entschuldigt sie sich. Der Sohn sei das letzte Mal vor dem Winter da gewesen, habe Holz gespalten und ihren Vorrat im Haus aufgestockt. So habe sie nicht jeden Tag über den Hof laufen müssen, denn der Schnee in diesem Jahr sei sehr hoch gewesen, erzählt die Alte. Der Weg hierher sei allerdings weit, überhaupt habe der Sohn wenig Zeit, da er endlich Arbeit gefunden habe, wenn auch mehrere hundert Kilometer entfernt. Doch was solle er hier auch, was biete ihm schon ein aussterbendes Dörfchen, in dem nur alte Frauen leben, fragt Dragica.


Die 77-jährige Dragica Radojevic lebt allein mit einer Handvoll Hühner in Sjeverovac /
Veronika Wengert, n-ost

In ihrer weiß getünchten Wohnstube brennt eine Glühbirne über dem Küchentisch, in der Ecke stapeln sich Holzscheite für den alten Ofen. Selbst im späten Frühjahr müssen die dicken Wände noch erwärmt werden, allerdings nur tagsüber. Nachts helfen mehrere Schichten Daunen-Federbett beim Energiesparen. Türen und Fenster wirken recht dicht und neu. Notgedrungen, erklärt Dragica und nickt zustimmend. Die habe man einbauen müssen, nachdem das Haus nach dem jüngsten Bürgerkrieg geplündert worden war. Nichts sei mehr geblieben, auch der Traktor war vom Hof verschwunden. Fast fünf Jahre stand das Haus leer, nachdem Dragica mit Mann und Sohn nach Serbien geflüchtet war.

Die Radojevics gehören -  wie alle Einwohner von Sjeverovac - der serbischen Minderheit in Kroatien an, die im Zuge der umstrittenen kroatischen Militäroperation "Oluja" (Sturm) aus der von ihnen traditionell besiedelten Krajina vertrieben worden waren. Über Nacht seien sie zu Flüchtlingen geworden, zu Fremden im eigenen Land, sagt Dragica. Ein vorübergehendes neues Zuhause fanden die Radojevics in der Nähe der serbischen Kleinstadt Subotica, nahe der ungarischen Grenze, in einem umgebauten Stall. Dort habe es Strom und Wasser gegeben, das schwere Los habe man mit den übrigen Flüchtlingen dort geteilt, fasst Dragica die Flüchtlingsjahre knapp zusammen. In "jenem" Krieg, wie sie den Zweiten Weltkrieg nennt, habe sie sich zwar im Wald versteckt, musste jedoch niemals aus ihrem Land flüchten. Erst 1999 kehrte das Ehepaar wieder nach Sjeverovac zurück. "Wir wussten überhaupt nicht, was mit uns Serben hier passieren würde", sagt Dragica.

Das Haus in Sjeverovac sei zwar geplündert, aber nicht abgebrannt gewesen. Vom kroatischen Staat habe man zum Neustart nur ein Schwein bekommen, sonst nichts. Keine Entschädigungen, keine finanzielle Hilfe. Ihren Mann Radovan hat Dragica vor vier Jahren bestattet. Das ganze Dorf kam damals zusammen und der Pfarrer aus dem 20 Kilometer entfernten Städtchen Petrinja angereist, wo sich die nächste orthodoxe Kirche befindet. Nach der Trauerrede wurde selbstgebrannter Schnaps ausgeschenkt und Spanferkel gegrillt, ganz nach serbischem Brauchtum. Seither ist es still geworden im Haus von Dragica. Nur ein halbes Dutzend Hühner und ein altes Kofferradio leisten der alten Frau Gesellschaft.

Die Schweine hat sie längst verkauft, um sich ihr Auskommen zu sichern. Einmal im Monat bringt der Postbote 700 Kuna vorbei, das sind weniger als 100 Euro, die Rente ihres verstorbenen Mannes. Er hatte sie sich als Wächter in der berühmten Wurstfabrik von Petrinja verdient. Dragica hat unterdessen den Hof bestellt, Kühe und Schweine gefüttert, drei Kinder groß gezogen und eines von ihnen wieder zu Grabe getragen. Das Leben auf dem Dorf sei manchmal hart, doch sie sei nichts anderes gewöhnt, sagt Dragica. Früher sei sicher einiges schlechter, aber auch besser gewesen. Denn immerhin hatte in "jenem Staat", wie die Alte das ehemalige sozialistische Jugoslawien nennt, noch ein Laden im zwei Kilometer entfernt gelegenen Nachbardorf geöffnet. Dort habe man einfach hinlaufen können, um die Besorgungen zu erledigen. Jetzt brauche man ein Auto, denn die zehn Kilometer nach Slunja, wo auch auch der Bürgermeister seinen Sitz hat, seien nicht einfach so zu meistern. Zudem könne sie seit einem Hüftbruch vor zwei Jahren, als sie auf dem Hof gestürzt war, nicht mehr so weit laufen. Damals musste sogar das Rote Kreuz kommen, mit dem Notarztwagen wurde sie ins 30 Kilometer entfernte Krankenhaus gebracht. "Die kommen aber nur im Notfall", so Dragica. Bei der Nachbarin neulich sei es schon zu spät gewesen, bis der Krankenwagen eingetroffen sei. Aber so sei das nun mal auf dem Land.


Verlassen wie fast ganz Sjeverovac: ein Schuppen an der Dorfstraße / Veronika Wengert, n-ost

Der Arztbesuch ist für Dragica fast schon Luxus. Wenn sie Beschwerden hat oder zur Kontrolluntersuchung muss, muss das nicht nur finanziell, sondern auch logistisch gut überlegt sein. Gut zehn Euro kostet der private Fahrservice, mit dem ein Mann aus dem Nachbardorf seinen Lebensunterhalt bestreitet. Ohne Rechnung, versteht sich. Das offizielle Taxi würde vermutlich den Großteil der Rente schlucken. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es in Sjeverovac nicht: Die nächste Bushaltestelle ist sechs Kilometer entfernt, der Bahnhof gar elf Kilometer. Nur die einzigen beiden Schulkinder im Dorf werden täglich vom Schulbus abgeholt, sonst bleibt es weitgehend still im Dorf. Außer alle zwei Tage, wenn der mobile Lebensmittelhändler mit seinem Kombi im Dorf vorbeikommt. Aus dem Kofferraum wandern Milch, Zucker und Öl direkt in die Einkaufstaschen von Dragica und der übrigen Dorfbewohner. Alles andere kann vorbestellt werden, für die nächste Tour in zwei Tagen. Frisches Weißbrot bringt unterdessen der mobile Bäcker. "Ein Segen", sagt Dragica, denn das würde den Alten im Dorf so manches erleichtern. Zwar sichern ihr die Hühner ab und zu ein Omelett, alles andere müsse sie jedoch von der schmalen Rente kaufen, genau wie Strom, Wasser, Rundfunkgebühr.

Allein das Telefon - die Leitung nach Sjeverovac wurde erst vor sechs Jahren verlegt - kostet monatlich neun Euro, fast ein Zehntel der Rente. Während bei Dragica in der Dämmerung nur eine kleine Tischlampe flackert, ist das Haus ihrer Nachbarin Maca Dzakula hell erleuchtet. Es sind jedoch nicht nur wenige Schritte, die die beiden Frauen voneinander trennen, sondern Welten. Wie Dragica ist die auch 67-jährige Maca Rentnerin, sie allerdings ist alles andere als einsam. Der fünfjährige Enkel Milos versucht gerade, seiner Großmutter auf den Schoß zu krabbeln. Oma Maca ist die einzige im Dorf, die ihr Leben mit den drei Enkeln teilt, sogar ihr 86-jähriger Vater lebt noch mit ihr im Haus.

Vier Generationen unter einem Dach - das ist in Kroatien keine Seltenheit. Ganz gleich, wie beengend der Raum auch sein mag, so gilt es hier immer noch als äußert ungewöhnlich, die eigenen Eltern ins Altersheim abzuschieben. Und da die meisten Mütter berufstätig sind, springen deren Mütter oder Schwiegermütter als "Baka-Servis", auf Deutsch "Großmutter-Service" ein. Maca Dzakula ist froh über den Nachwuchs ihres Sohnes Rodoljub, der mit seiner Familie nach dem Tiermedizin-Studium aus der Hauptstadt zurückgekehrt ist und nun mehrere hundert Kühe, Schweine und Esel hält. Das gebe dem aussterbenden Dorf, in dem nur Alte leben, nun endlich wieder eine Perspektive, sagt Maca.


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