Türkei

Nur ein Stück Stoff?

Der Streit um die Aufhebung des Kopftuchverbotes an türkischen Universitäten spaltet die Türkei. Nachdem bereits die Direktoren verschiedener Fakultäten in großen Zeitungsannoncen vor einer drohenden Islamisierung warnen, unterschrieben seit Samstag bereits fast 2000 an Hochschulen arbeitende Akademiker einen in einem Internet-Blog angelegten Aufruf zur Liberalisierung der Kleidungsvorschriften. So heißt es auf www.universitedeozgurluk.blogspot.com, dass alle Studenten ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, ihrer Nationalität, ihres Geschlechtes oder ihrer Religionszugehörigkeit die Möglichkeit zum Studium bekommen sollten.

Ausgelöst wurde der Kopftuchstreit durch eine von der Regierung Turgut Özals eingefügte Klausel in das Hochschulgesetz von 1989. Dort werden die Studenten aufgefordert, moderne Kleidung zu tragen; das Kopftuch aus religiösen Gründen auf dem Campus zu tragen, wird erlaubt. Das "Kleidungsgesetz", das seit den 30er Jahren eine moderne, zeitgemäße Aufmachung verordnet, wird damit umgangen. Das Verfassungsgericht annullierte die Klausel 1991 und löste damit Protestwellen im ganzen Land aus. Viele Studentinnen konnten ihren Abschluss nicht ablegen, weil sie sich innerhalb der politisierten Atmosphäre der 90er Jahre weigerten, das Kopftuch abzulegen. Ende der 90er Jahre, als der politische Islam erlahmte,  setzte sich der Reformerflügel um den heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erogan und Staatspräsidenten Abdullah Gül durch. Die Regierungspartei für "Gerechtigkeit und Fortschritt" (AKP) erklärte 2004 ausdrücklich, sie verstehe sich nicht islamisch, sondern wertkonservativ und schreibe sich die Liberalisierung des Kopftuches nicht auf die Fahnen, auch wenn sie es politisch als Teil der Demokratisierung ansehe.

Die derzeitige Verfassungsreform ist seit langem überfällig, doch um die Inhalte wird kontrovers debattiert. Denn es geht nicht nur um das Kopftuch. Canan Arin ist eine der Symbolfiguren der türkischen Frauenbewegung. Seit den 80er Jahren kämpft die Anwältin für Frauenrechte. Das Jahr 2004 bedeutete gesetzlich eine Zäsur. Eine Gesetzesänderung verankerte erstmalig die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung. Dem folgten Reformen, für die die Frauenbewegung jahrzehntelang erfolglos gekämpft hatte. Gewalt in der Ehe wurde unter Strafe gestellt, die Strafnachlässe für Ehrenmorde wurden aufgehoben und willkürliche Jungfräulichkeitstests verboten. "In meiner Berufspraxis war das ein Meilenstein", sagt Canan Arin.

Vorschläge zu einer Verfassungsänderung, die die Gleichstellung in den türkischen Medien zurücknehmen will, lehnt die 52jährige entschieden ab. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) diskutiert derzeit den von einer Juristen-Kommission erarbeiteten Entwurf für eine neue Verfassung. Seit Wochen heizen immer wieder Vorabdrucke von Auszügen die öffentliche Diskussion in der Türkei an. Der Vorschlag, den Gleichberechtigungsparagraphen zu streichen und Frauen neben Kindern, Alten und Behinderten als besonders schutzbedürftige Gruppe zu definieren, schlug nicht nur im feministischen Lager wie eine Bombe ein.

Im Kabinett von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ringen Modernisierer mit Traditionalisten. Besonders umstritten ist die von der Europäischen Union geforderte Änderung des Zensurparagraphen 301. Dieser verbietet die "Beleidigung des Türkentums" und war in den vergangenen Jahren von nationalistischen Juristen benutzt worden, um etwa Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen öffentlich geäußerter Kritik am Umgang der Türken mit den Massakern an Armeniern im Ersten Weltkrieg vor Gericht zu bringen. Der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink wurde wegen ähnlicher Äußerungen sogar zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und am 19. Januar 2007 auf offener Straße von einem nationalistisch verblendeten Jugendlichen ermordet. Die Regierung Erdogan würde den Paragraphen 301 gern loswerden, vor allem, um das schlechte Image in Europa zu verbessern. Justizminister Mehmet Ali Sahin will den vagen Begriff des "Türkentums" in dem Gesetz durch die "türkische Nation" ersetzen. Zudem soll die Höchststrafe von drei auf zwei Jahre reduziert werden. Außerdem will Sahin, dass Verfahren nach dem Paragrafen 301 nur noch mit Genehmigung seines Ministeriums eingeleitet werden dürfen. Damit sollen nationalistische Anwälte, die in der Vergangenheit die spektakulären Prozesse gegen Dink und Pamuk als Nebenkläger auslösten,  ausgebremst werden.

Hrant Dinks Anwältin Fethiye Cetin ist skeptisch. Würde diese Reform den damaligen Prozess gegen Dink anders verlaufen lassen? "Die Politik des damaligen Justizministeriums war eindeutig gegen uns, eine politische Instanz liefert doch nicht mehr Rechtssicherheit", meint sie. Zudem sind Justizminister Mehmet Sahins Vorschläge in der eigenen Regierung umstritten. Sein Vorgänger Cemil Cicek, inzwischen Vizepremier und Wortführer der Nationalisten in der Erdogan-Regierung, nahm nach mehreren Medienberichten in internen Beratungen gegen Sahins Pläne Stellung. "Das einzig richtige Signal wäre nach den verheerenden Folgen dieses Paragraphen seine komplette Streichung", fordert Fethiye Cetin mit steinerner Miene.

Fethiye Cetin ist jetzt Nebenklägerin im Prozess gegen Hrant Dinks Mörder. Der armenisch-türkische Journalist wurde 2006 trotz eines ihn entlastenden linguistischen Gutachtens der Beleidigung des Türkentums für schuldig gesprochen. Das war ein Justizskandal, der in der Türkei kaum thematisiert wurde. Das Verschwinden von Beweismaterial im Mordfall Dink verschleiert momentan nur oberflächlich die Verbindungen des Mörders und seiner Hintermänner bis in den Polizei- und Justizapparat - ein fast täglich in der türkischen Öffentlichkeit thematisierter Justizskandal, der keinerlei Konsequenzen nach sich zieht. "Wir sind noch weit von Rechtssicherheit entfernt", so Fethiye Cetin, "trotzdem haben Verfassungs- und Gesetzesänderungen eine Signalwirkung."

Derzeit taktiert die AKP. Neben der Debatte um das Strafrecht sind umfassende Änderungen des politischen Systems vorgesehen.  Die Begrenzung der Macht des Präsidenten und des Militärs würde einer von der EU geforderten Stärkung der parlamentarischen Demokratie gleichkommen, auch die Liberalisierung des totalen Kopftuchverbotes auf dem Universitätscampus liegt auf EU-Kurs. Diese Punkte sind die strittigsten der momentanen Debatte.


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