Die Einsamkeit einer Überlebenden
Seit Sommer 1995 hat Sabaheta Fejzic nicht mehr gelacht. Saban, ihr Ehemann, und Rijad, ihr Sohn und einziges Kind, sind tot - ermordet beim Massaker von Srebrenica. Sabaheta hat überlebt, doch sie kann ihre Einsamkeit kaum ertragen. Bis heute ist sie auf der Suche nach ihren Liebsten, um sie wenigstens in Würde bestatten zu können.
Sabahetas Augen sind müde, ihr Blick schweift ins Leere. Was um sie herum geschieht, scheint an ihr abzuperlen. Ihre Lebensfreude und ihr Lachen, ihre Unbeschwertheit und ihr Humor, ihr Glaube an die Zukunft und das Gute - dieser ganze Reichtum der Seele und des Gemüts, der ihr Leben einst so wunderbar gemacht hatte, wurde 1995 auf einen Schlag vernichtet. Geblieben ist Sabaheta nichts außer Verzweiflung und quälender Fragen - und die furchtbare Erinnerung an Srebrenica im Juli 1995 (vgl. Info-Box). Sie will davon erzählen, sie muss es, immer wieder. Es ist diese Geschichte, die bis heute jeden Augenblick ihres Lebens ausfüllt, bis in den letzten Winkel ihres Alltags vordringt.
Am 11. Juli 1995 begann für Tausende von Menschen aus Srebrenica der Gang durch die Hölle, auch für Sabaheta. Die damals 39-Jährige erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Pausenlos laufen die Bilder des Fruchtbaren durch Sabahetas Kopf, lassen keinen Raum mehr für anderes. Es gibt für sie nur noch Srebrenica: "Ein Teil, vor allem Männer und Jungen, versuchten, zu Fuß durch die Wälder zu entkommen. Mein Mann Saban war einer von ihnen. Die Frauen, Kinder und älteren Menschen retteten sich nach Potocari, zur Uno-Basis. Auch ich dachte, dies sei am sichersten. Am Nachmittag des 11. Juli kam ich mit meinem Sohn Rijad dort an. Er war 17 Jahre alt. Etwa 20.000 bis 25.000 Menschen drängten sich auf dem Gelände. Hier sah ich, wie die Cetniks Kinder und Alte ermordeten, wie sie Frauen vergewaltigten."
Am schlimmsten sei die Nacht vom 12. auf den 13. Juli gewesen. Sabaheta kann sie nie mehr vergessen: "Wir waren Tausende, im Freien und in einer zerstörten Fabrik bei der Uno-Basis. Aber es war totenstill. Mitten in der Nacht kamen sie, und ich sah, wie sie einem Säugling vor den Augen seiner Mutter den Kopf abschnitten. Die Mutter schrie laut. Und wir alle standen wie auf Kommando gemeinsam auf und schrieen so durchdringend, dass man uns bis in die Mitte Serbiens hören konnte. So ging es die ganze Nacht: Zuerst ein einzelner Aufschrei, dann der Schrei Tausender, immer wieder und wieder..."
Am 13. Juli ging weiter, was schon am Vortag begonnen hatte. General Mladic und seine Leute hatten alles minutiös vorbereitet: Mit Bussen wurden die in Potocari lagernden Menschen deportiert, bis kurz vor die Frontlinie gebracht, von wo aus sie sich zu Fuß in Sicherheit bringen mussten. Auch Sabaheta und Rijad machten sich auf zu den Bussen, vorbei an schwerbewaffneten bosnisch-serbischen Soldaten. "Ich hielt meinen Sohn an der Hand. Ein Cetnik zeigte mit dem Finger auf meinen Rijad und sagte: ‚Nach rechts!'. Doch wir gingen einfach weiter. Sie schrieen uns an: ‚Sagten wir nicht, du sollst nach rechts?' Dann rissen sie mir meinen Sohn aus den Armen."
"Lachen, das kennt meine Seele nicht mehr. Ich lebe nur noch, weil ich leben muss". / Norbert Rütsche, n-ost
Sabaheta atmet tief durch, das Sprechen fällt ihr schwer, und doch zwingt sie sich weiterzureden: "Als ich sah, dass ich nichts mehr tun konnte, fiel ich auf die Knie und flehte sie an, sie sollten lieber mich umbringen, das Kind sei doch unschuldig. Die Soldaten fluchten, traten und schlugen mich, einer richtete das Gewehr auf mich und lud es durch. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen. Rijad weinte und sagte: ‚Mama, ich bitte dich, geh...!' Dann packte mich ein Soldat und warf mich auf einen Lastwagen, der sofort losfuhr. Ein paar Mal versuchte ich, vom Lastwagen zu springen, um mein Kind wieder zu bekommen. Doch die anderen Frauen hielten mich zurück. Mehrmals fiel ich in Ohnmacht. Das waren die schlimmsten Augenblicke in meinem Leben. Ich wäre lieber tot gewesen, als mein Kind zurücklassen zu müssen."
Der Genozid von Srebrenica - schlimmster Massenmord in Europa seit 1945
Die Kleinstadt Srebrenica liegt im Osten von Bosnien und Herzegowina, unweit der Grenze zu Serbien. Wo vor Kriegsbeginn 1992 rund 8.000 Menschen gelebt hatten, drängten sich im Sommer 1995 mehrere zehntausend Frauen, Männer und Kinder. Es waren muslimische Flüchtlinge und Vertriebene aus den umliegenden Dörfern und Gemeinden, die in Srebrenica Zuflucht gesucht hatten. Die Enklave war 1993 wie Zepa, Gorazde und andere Städte zur "Uno-Schutzzone" erklärt worden. Dennoch litt Srebrenica weiter unter dem Beschuss durch die "Cetniks", wie die Eingeschlossenen die serbischen Angreifer nannten. Die Nahrungsmittel wurden knapp, Strom- und Wasserversorgung funktionieren längst nicht mehr. Täglich starben Menschen. Obwohl die Stadt unter dem Schutz der Uno stand, wurde Srebrenica am 11. Juli 1995 von bosnisch-serbischen Einheiten - Soldaten, Polizisten und Paramilitärs - unter dem Kommando von General Ratko Mladic eingenommen. Die niederländischen Uno-Blauhelme, deren Stützpunkt im Vorort Potocari lag, waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Mladics Soldateska tötete in den darauf folgenden Tagen systematisch über 8.000 muslimische Männer und Jungen. Alle Männer, derer die Angreifer vor Ort habhaft werden konnten, wurden aussortiert und erschossen. Über 10.000 weitere hatten nach dem 11. Juli versucht, durch die Wälder vor den bosnisch-serbischen Einheiten zu fliehen. Doch nur etwa die Hälfte kam auch wirklich auf dem damals muslimisch kontrollierten Gebiet an. Die anderen Männer gerieten in Hinterhalte, wurden gefangen genommen und anschließend ermordet. Viele wurden von Granaten und Minen zerfetzt oder starben an Hunger und Erschöpfung. Frauen, Kinder und Alte waren unmittelbar nach der Eroberung Srebrenicas mit Bussen aus der Enklave deportiert worden.
Ende Februar 2007 stufte der Internationale Gerichtshof der Uno in Den Haag dieses Massaker als Völkermord ein. Bereits 2001 war das Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zum gleichen Schluss gekommen. Gegen die mutmaßlich Hauptverantwortlichen für den Genozid, den ehemaligen bosnisch-serbischen General Ratko Mladic und den früheren politischen Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, hat das ICTY Anklage erhoben. Beide sind aber bis heute auf der Flucht.In Potocari, wo 1995 der Stützpunkt der holländischen Uno-Truppen war und das Morden und die Deportationen begannen, befinden sich heute der Friedhof und eine Gedenkstätte für die Opfer von Srebrenica. 2907 von ihnen haben hier bislang ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die sterblichen Überreste der anderen konnten noch nicht identifiziert werden oder wurden gar nicht gefunden.Das Massaker von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina gilt als der schlimmste Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wenn sie aus ihrer Erinnerung erzählt, ringt Sabaheta um ihre Fassung. Die zierliche Frau bricht immer wieder in Tränen aus. "Ich hatte eine wunderbare Ehe mit Saban. Er war Vorarbeiter im Bergwerk, in dem ich als Buchhalterin arbeitete. Wir waren zufrieden und glücklich. Bis sie mir meinen Sohn nahmen. Dann wartete ich auf meinen Mann, der durch die Wälder hatte fliehen wollte. Ich wartete und wartete. Doch er kam nie an. Schließlich erfuhr ich, dass er auf der Flucht mit einer Gruppe Männer versucht hatte, bei Kalesija eine Asphaltstrasse zu überqueren. Dort war eine Stellung der Cetniks. Sie schossen alle nieder." Später wurde hier ein Stück der Lederjacke und der Trainingsanzugshose von Sabahetas Mann gefunden.
Es gibt keine Zweifel mehr, dass Saban und Rijad nicht mehr leben. Sabaheta wird alleine bleiben, alleine mit unzähligen Fragen. Doch sie will mehr erfahren. "Diese Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich frage mich die ganze Zeit: Wo und wie wurden sie getötet? Wurden sie vielleicht gefoltert? Jedes Mal, wenn ein neues Massengrab entdeckt wird, gehe ich hin, suche alles ab - Kleidungsstücke, Knochen. Aber es war nichts bis jetzt. Ich habe auch Blut gegeben, damit mein Sohn mit der DNA-Analyse identifiziert werden könnte." Oft wurden die Massengräber von den Tätern wieder geöffnet, um die Leichen an einem anderen Ort in so genannten sekundären Gräbern erneut zu verscharren. Viele wurden verbrannt oder in den Fluss Drina geworfen. Sabaheta: "Ich habe Angst, dass ich sterbe, ohne dass etwas von Saban und Rijad gefunden wurde. Aber was kann ich tun? Nur warten, mehr nicht..."
Seit 1996 lebt Sabaheta in Sarajewo, zusammen mit ihrer alten Mutter. Ihre Witwen- und Invalidenrenten reichen gerade, um sich über Wasser zu halten. Im selben Haus wohnt auch ihr älterer Bruder. Er ist krank, hat Wunden, die einfach nicht heilen wollen. "Er schlug sich damals durch, kam nach 26 Tagen Flucht durch die Wälder auf dem freien Territorium an", erzählt Sabaheta. "Doch mein jüngerer Bruder hat es nicht geschafft, er wurde getötet."
Gleich nach dem Massaker gründeten ein paar mutige Frauen die Opfervereinigung "Bewegung der Mütter der Enklaven Srebrenica und Zepa". Sabaheta ist eine von ihnen. "Wir taten uns zusammen, weil wir wissen wollten, was mit unseren Liebsten geschehen ist. Als Überlebende bin ich es den Toten schuldig, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wir kämpfen dafür, dass alle Opfer gefunden und mit Würde bestattet werden. Und dass die Verbrecher, die den Völkermord begangen haben, zur Rechenschaft gezogen werden." Jeden Tag arbeitet Sabaheta im Büro der "Mütter von Srebrenica" in einem tristen Hochhaus in Sarajewo - ehrenamtlich.
Die Stimme der Vereinigung wird gehört in Bosnien und Herzegowina, aber auch in der Welt. Unzählige Auszeichnungen, Preise, Dankesurkunden und Fotos an der Wand zeugen davon. Das Büro ist der einzige Ort, an dem sich Sabaheta mit Besuchern treffen will. Es ist für sie noch am ehesten so etwas wie ein Zuhause. "Ja, hier habe ich Freundinnen. Aber dennoch fühle ich mich allein und einsam. Denn wir sprechen nur über unsere Probleme. Alles was ich geliebt habe, gibt es nicht mehr. Diejenigen, mit denen ich alles teilte, sind nicht mehr. Unser glückliches Leben ist 1995 erloschen."
Sabahetas Einsamkeit und Leere sind zum Greifen. Obwohl erst 52 Jahre alt, hat sie mit ihrem Leben so gut wie abgeschlossen: "Ich lebe nur noch, weil ich leben muss. Aber eigentlich bin ich 1995 gestorben. Lachen, das kennt meine Seele seitdem nicht mehr, auch wenn ich es manchmal versuche. Nachts, in meinen Träumen, verfolgen mich die schrecklichsten Bilder. Ich sehe, wie sie meinen Mann und meinen Sohn foltern... Ich kann es gar nicht erzählen. Deswegen brauche ich auch so viele Medikamente."
Tausende von Namen erinnern an jeden der ermordeten Männer und Jungen von Srebrenica", Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica / Norbert Rütsche, n-ost
Will Sabaheta wieder in Srebrenica wohnen? "Eigentlich wollte ich nie mehr zurück. Denn dort sehe ich jeden Tag Leute, die an den Verbrechen von 1995 beteiligt waren - Nachbarn, auch solche aus meinem Haus. Aber schon seit einer Weile denke ich immer öfter darüber nach. Vor einer Rückkehr müsste ich allerdings die Wohnung renovieren." Doch dieses Geld - etwa 1.500 bis 2.000 Euro - hat Sabaheta nicht. "Von Hilfsorganisationen bekomme ich stets dieselbe Antwort: Sie sind allein, Sie haben keinen Anspruch auf Unterstützung."
Warum will sie denn trotzdem zurück? "Es ist der Ort, an dem ich die glücklichsten Jahre meines Lebens verbrachte, mit Saban und Rijad. Sie sind immer bei mir. Nur die Gedanken an die gemeinsame Zeit von damals geben mir die Kraft weiterzumachen. Ich lebe dafür, meinen Mann und meinen Sohn zu finden. Ich habe nie aufgehört, nach ihnen zu suchen."