"Man soll sich nie selbst bemitleiden" / Porträt Lenka Reinerovas
Sie ist die letzte auf Deutsch schreibende Literatin aus Prag. Und sie wird im selben Atemzug mit Franz Kafka, Egor Erwin Kisch und Max Brod genannt: Lenka Reinerova. Im Bundestag soll die 91 Jahre alte Schriftstellerin am Freitag anlässlich des Holocaust-Gedenkens sprechen. Doch Lenka Reinerová ist krank, sie wird es nicht schaffen, im deutschen Parlament anwesend zu sein. Stattdessen wird die Schauspielerin Angela Winkler ihre Rede vortragen. Wer ist Lenka Reinerová - diese "Grande Dame" der deutsch-jüdisch-tschechischen Literatur?
Das bewegende Leben von Lenka Reinerová liest sich wie ein Lehrbuch des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Als sie 1916 in Prag geboren wurde, herrschten in den bömischen Ländern die Habsburger. Ihr Leben wurde durch die deutsch-jüdisch-tschechische Atmosphäre von Prag geprägt. Später bestimmten die Nationalsozialisten in Deutschland oder die Kommunisten in der Tschechoslowakei ihren Alltag. Sie kämpfte damals nicht nur gegen das Regime, sondern auch gegen eine Krankheit: den Krebs. All das spiegelt sich in ihren Geschichten wider: Darin spielen Tragödien, Verlieren und das Warten eine große Rolle.
Dabei fehlt es der Reinerová aber nie an dem sprudelndem Optimismus, mit dem sie alle Schicksalsschläge überstanden hat. Ihre Texte sind emotional, aber nie wird sie wehmütig. "Im Kampf gegen den Krebs war ihr starker Willen immer eine Unterstützung", sagt die langjährige Familienfreundin Pavla Jaizairi. Sie hofft, dass sie nie das Lebensmotto von Lenka Reinerová vergisst: "Man soll sich nie bemitleiden! Keine Sekunde."Obwohl die Deutschen ihre gesamte Familie getötet haben, hat Lenka Reinerová nie aufgehört, auf Deutsch zu schreiben. "Deutsch ist für mich ein Instrument, ein Arbeitswerkzeug. Die Sprache kann doch nichts dafür, was passiert ist", sagt die letzte lebende deutsch-jüdisch-tschechische Schriftstellerin Lenka Reinerová.
Als Kind war ihr die jüdische Herkunft nur dann bewusst, wenn sie ihr Vater einmal pro Jahr in die Synagoge mitnahm. In den 30er Jahren spielten die jüdischen Wurzeln jedoch plötzlich eine zentrale Rolle in ihrem Leben. Im März 1939 fuhr sie zur Reportage nach Rumänien. Auf dem Heimweg rief Lenka Reinerová noch einmal zu Hause an. Dieses Telefonat besiegelte die Emigration. "Meine Schwester hat mir davon abgeraten, zurückzukehren, denn die Deutschen waren bereits bei uns", errinert sich Reinerová. Das war auch das letzte Gespräch mit ihren Familienangehörigen. Ihre Familie hat den Holocaust nicht überlebt. Wenn Lenka Reinerova auf Deutsch erzählt, wirkt das, als höre man gleichzeitig Franz Kafka und alle anderen Prager Intellektuellen mit ihrem böhmisch-deutschen Dialekt.
Lenka Reinerová / Steffen Giersch, n-ost
Reinerová schreibt bis heute, den Stoff gibt ihr das Leben. Sie schreibt über den Schmerz, über das Schicksal aber vor allem über die Hoffnung. "Bis heute bekommt sie viel Post von begeisterten Lesern aus der ganzen Welt", sagt ihre Mitarbeiterin, die Managerin des Prager Literaturhauses Lucie Cernohousová. In dem großartigem Gedächtnis von Reinerová sind alle ereignisreichen Geschichten des Lebens geordnet - so, als wären sie gestern passiert. "Ich fühle mich nicht als Schriftstellerin, ich bin eine Erzählerin", sagt Reinerová. Sie erzählt Geschichte nach Geschichte, alles mit dem Stift oder mit einer alten Schreibmaschine, genau wie damals als Praktikantin bei der deutschen Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, deren Redaktion in den 30er-Jahren von Berlin nach Prag geflüchtet war.
Dort macht Chefredakteur F.C. Weiskopf sie 1935 mit Egon Erwin Kisch bekannt. Mit Kischs Familie verbringt sie dann die Exil-Jahre in Frankreich und Mexiko. Dort arbeitet sie für die Vertretung der tschechischen Exilregierung. Nach dem Kriegsende kehrt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller und Arzt Theodor Balk, über Serbien nach Prag zurück. Hier wird sie wieder verhaftet, sie weiß aber bis heute nicht, warum. Auf alle Fragen kommt nur eine einzige Antwort zurück: "Das wissen sie selbst am besten." Bei dem Verhör fallen Wörter wie Hochverrat, Spionage für den Klassenfeind und Zionismus und sie wird nur als Häftling Nr. 2814 bezeichnet. "Als ich auch die Einschulung meiner Tochter 1952 im Gefängnis erleben musste, habe ich geweint", sagt Reinerová. "
Die 15-monatige Gefangenschaft war neben dem Verlust der Familie für meine Mutter der schlimmste Schicksalschlag im Leben", erzählt ihre Tochter, die Psychologin Anna Fodorová. Nach dem Prager Frühling 1968 flüchtet ihre Tochter nach Großbritannien und Reinerová wird aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Aber sie bleibt trotzdem in Prag, obwohl die Kommunisten ihr auch das Schreiben verboten haben. Sie arbeitet als Dolmetscherin. Erst in den 80 Jahren liegen ihre Bücher dank dem Berliner Verlag Aufbau wieder in den Buchhandlungen, nach der Samtenen Revolution von 1989 auch endlich wieder in ihrer geliebten Heimatstadt.
Seit einigen Jahren setzt sich Lenka Reinerová für die Entstehung des Prager Literaturhauses der deutschsprachigen Autoren ein. "Sie ist entschieden, offen aber gleichzeitig strikt," beschreibt Lucie Cernohousová die enge Zusammenarbeit mit der 91jährigen Literatin. Lenka Reinerová ist nach den Worten von Cernohousová eine sehr starke Frau, aber innerlich doch verletzlich: "Einmal haben wir uns nach vielen offiziellen Terminen einfach hingesetzt und privat unterhalten und am Ende hat mir Lenka Reinerová ein Buch mit folgender Widmung geschenkt: ‚Für Lucie am Tag unseres Kennenlernens'. Wir kannten uns zu dem Zeitpunkt bereits ein Jahr lang."
Werke von Lenka Reinerová:
· Grenze geschlossen Berlin 1958
· Ein für allemal Berlin 1962
· Der Ausflug zum Schwanensee Berlin 1983
· Es begann in der Melantrichgasse Berlin 1985.
· Die Premiere Berlin & Weimar 1989
· Das Traumcafé einer Pragerin. Erzählungen Berlin 1997
· Mandelduft. Erzählungen Berlin 1998
· Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo Berlin 2000
· Alle Farben der Sonne und der Nacht Berlin 2003
· Närrisches Prag Berlin 2005
· Das Geheimnis der nächsten Minuten Berlin 2007Ehrungen von Lenka Reinerová:
· 1999 Schiller-Ring der deutschen Schillerstiftung Weimar
· 2001 Verdiensmedaille I. Ranges durch Präsident Václav Havel
· 2002 Ehrenbürgerschaft ihrer Heimatstadt Prag
· 2003 Goethe-Medaille
· 2006 Großes Bundesverdienstkreuz