Tschechien

DIE MÄDCHEN VON ZIMMER 28

Die Holocaust-Überlebende Chana Weingarten erzählt vom Alltag in einem Mädchenheim im Ghetto Theresienstadt / Holocaust-Gedenktag 27. JanuarChana Weingarten will sich nicht anlehnen. Die robuste 78-jährige Dame in Jeans, weißer Bluse und schwarzer Strickjacke sitzt in einem Berliner Hotelzimmer ganz vorne auf einer Stuhlkante. Sie spricht Englisch, konzentriert und eindringlich, und skizziert einen Grundriss mit den Fingern auf der Bettdecke: "zehn dreistöckige Betten, in der Mitte ein Tisch mit zwei Bänken, ein Schrank mit Stoff verhängt, für unsere Kleider. Na, viele hatten wir ja nicht."

So sah es aus im Zimmer 28, Haus L 410 im Ghetto Theresienstadt. 30 Quadratmeter für 30 Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren. Ein Ort, an dem Freundschaften geknüpft wurden. Wo geträumt werden konnte. Und der immer wieder vom Holocaust überschattet wurde. Chana Weingarten war hier zum ersten Mal verliebt, "platonisch natürlich, Händchenhalten war das Größte der Gefühle". Mit 13 Jahren kam sie in das Zimmer, im Jahr 1943. Damals hieß sie noch Hanka Wertheimer. Ihre Mutter wurde in einem anderen Haus untergebracht. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in das Sudetenland 1938 war die Familie Wertheimer aus Znaim an der tschechisch-österreichischen Grenze geflohen und von Verwandten zu Verwandten gezogen. Hatte eine prosperierende Konserven-Fabrik hinter sich gelassen. "Die Znaimer Gurken waren berühmt", sagt Chana stolz. Und die kleine Hanka, die damals neun Jahre alt war, hatte "nur ein paar Kleider und ihre Puppe" mitnehmen können.


Bunte Kinderzeichnung von Hanka Wertheimer
© Room 28 Projects/Jüdisches Museum PragSchließlich also das Ghetto. "Ich hätte auch bei meiner Mutter bleiben können", betont Chana. Immer, wenn es um ihre Mutter geht, spricht sie langsamer, stockend, muss die Tränen zurückhalten. "Meine Mutter hat mich immer beschützt. Unser Zimmer war viel fröhlicher und offener. Meine Mutter wohnte mit alten und kranken, unterernährten Leuten zusammen. Es gab zu viele traurige Sachen zu sehen. Das war nicht so gut für Kinder." Sie erinnert sich genau an ihre Ankunft. "Alle Mädchen fragten mich, ob ich Bücher mitgebracht hätte." Denn im Zimmer 28 wurde gelesen, geredet, diskutiert - und auch gelernt. Mathematik, Geographie, Literatur. "Wenn die Ghettopolizei uns kontrollierte, fingen wir an zu singen." Singen und Zeichnen waren, im Gegensatz zum Schulunterricht, erlaubt. Betreut wurden die Mädchen von jungen Frauen, die nur einige Jahre älter waren. "Tela zum Beispiel unterwies uns in Hygiene und brachte uns bei, nicht zu stehlen und freundlich zu sein. Das war unter diesen Bedingungen nicht einfach." Wenn sie von den Betreuerinnen erzählt, lächelt Chana. Diese schützten die Mädchen vor der Außenwelt, halfen ihnen, eine Insel der Normalität aufzubauen.
Oft wechselten die Betreuerinnen nach einigen Monaten. Denn das Ghetto war keine von Juden selbst verwaltete "geschenkte Stadt", kein Altersheim "Theresienbad", wie in der NS-Propaganda perfide behauptet wurde, sondern ein Sammel- und Durchgangslager im Sudetenland, das seit der deutschen Besetzung 1938 "Protektorat Böhmen und Mähren" hieß, für die Transporte nach Auschwitz.

Hanka, die kräftig und groß war, die sich immer viel erwachsener als die anderen Mädchen fühlte, wie sie sagt, arbeitete in der Landwirtschaft. Die Arbeit war körperlich anstrengend. "Am härtesten war aber", erzählt Chana, "dass wir Gemüse und Obst für die Deutschen anbauten, das wir selbst nicht essen durften." Von den Erdbeeren, die sie einmal pflanzten, probierten sie nicht eine einzige. Sie hatten Angst vor den Strafen. "Meine Mutter dachte: besser die frische Luft draußen als die schlechte Luft in der Stadt." Denn das Ghetto war überbevölkert, die hygienischen Zustände unerträglich, Epidemien herrschten, die Todesquote stieg täglich, Menschen hausten in Fluren, unterirdischen Tunneln der Festung, in Höfen und Hauseingängen. Im Mädchenheim gingen Typhus und Encephalitis um.

"Einmal stahlen wir Spinat", erzählt die alte Dame. "Wir stopften ihn uns in die Strümpfe. Ich dachte, meine Mutter fände das lustig. Aber sie war sehr unglücklich darüber. Denn so etwas war sehr gefährlich." Chana kann heute noch darüber lachen. Ob sie ein fröhliches Mädchen war? Bestimmt. Denn weil ihre Mutter eine große Optimistin war, blieb auch Hanka optimistisch. Und zum Glück gab es Hilfe von außen. "Unser ehemaliges Hausmädchen schickte uns regelmäßig Zwei-Kilo-Pakete mit trockenen Lebensmitteln wie Mehl und Zucker. Sie war großartig. Meine Mutter hatte ihr gesagt: Verkauf unsere Sachen, nimm, was du brauchst, aber schick uns Nahrung." Die kleine Hanka wusste, dass solche Abmachungen das Überleben bedeuten konnten.


Kinderfoto von Hanka Wertheimer mit 13 Jahren
© Room 28 Projects/Jüdisches Museum Prag

Nicht nur das Essen hielt am Leben, auch die Gedanken an die Zukunft. Und die waren im Zimmer 28 vorhanden. Hanka gehörte einer zionistischen Bewegung aus vier Mädchen und fünf Jungen an. "Wir wollten nach dem Ende des Krieges nach Palästina gehen und lernten ein paar hebräische Wörter, das hielt uns beschäftigt. Das Träumen war wichtig, denn die Situation war so schwierig." Die Mädchen im Zimmer schufen sich eine eigene Flagge, nannten ihre Gemeinschaft "Maagal", Hebräisch für "Kreis" oder "Vollkommenheit".

Chana wird oft sehr ungehalten, wenn sie erzählt, sie kann und will vieles immer noch nicht verstehen. Was Menschen anderen Menschen antun konnten. Dass SS-Männer mit Kindern andere Kinder töten konnten. "Ich dachte immer: Der Krieg ist ungerecht. Deshalb wird er schnell enden. Wenn wir abends nach 20 Uhr in den Betten lagen, sprachen wir darüber, dass wir uns nach dem Krieg an der großen Uhr in Prag treffen würden." Und sie ist heute noch erstaunt darüber, dass die Hoffnung blieb. Dass Pläne gemacht wurden. Dass niemand im Zimmer 28 realisierte, dass nach dem Krieg nichts mehr so wie früher sein würde. "Das Träumen war wichtig", erklärt sie es, "dann vergisst man die Probleme."

"Heute ist alles in Ordnung", sagt sie. Sie sitzt immer noch auf der Stuhlkante und wischt sich die Augen. Seit einer halben Stunde versagt ihr immer wieder die Stimme. Aber sie hat einen starken Willen, sie will erzählen, sie muss. Ihre Mutter und sie wurden im Mai 1944 nach Auschwitz gebracht, überlebten die Selektion für die Gaskammer und wurden als Arbeitskräfte nach Norddeutschland transportiert. "Wir kamen nach Hamburg, was auch sehr schlimm war, aber dort gab es keine Gaskammern. Hamburg war stark zerbombt worden und wir bauten neue Häuser und Straßen, reparierten Fabriken und hoben rund um Hamburg tiefe Gräben aus." Im Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde sie am 15. April 1945 befreit, "kaum lebendig".

Hanka hatte nach dem Krieg niemanden. Ihr Vater war im KZ Dachau gestorben, ihre Mutter einen Monat nach der Befreiung von Bergen-Belsen. Einzig ihre Schwester hatte vor dem Krieg mit einem Kindertransport nach Israel emigrieren können. Hanka kehrte abgemagert - sie wog mit 15 Jahren nur 35 Kilo - und mit Tuberkulose zurück nach Prag, zu dem treuen Hausmädchen. Das sie kaum erkannte.
Die Mädchen aus Zimmer 28 verloren sich untereinander nicht aus den Augen. Wie Hanka kehrten viele nach Prag zurück. Sie gingen ins Kino oder spazieren - und Hanka dachte einige Zeit, sie könnte nur mit Menschen befreundet sein, die dasselbe wie sie durchgemacht hatten. "Aber da hatte ich mich getäuscht", weiß sie. Später lernte sie im Kibbuz in Israel ihren Mann kennen, studierte mit ihm in den USA und lebt jetzt in Tel Aviv.


Chana Weingarten heute
© Room 28 Projects/Jüdisches Museum Prag

Seit 1990, seit dem Ende der Tschechoslowakei, treffen sich die 15 Frauen, die überlebt haben, einmal im Jahr in einem kleinen Dorf im Riesengebirge. "Jetzt sind die Grenzen offen", erklärt Chana, "und wir haben als Rentnerinnen Zeit." Sie lachen, reden, singen - fast wie früher. Und reden in einem Mischmasch von vier Sprachen: Englisch, Tschechisch, Deutsch und Hebräisch. In Theresienstadt war Chana seitdem auch mehrmals, zuerst mit ihren drei Söhnen. "Dort gibt es jetzt ein Museum", sagt sie, "und ein Zimmer ist exakt so, wie es früher war, mit schmalen Betten, Koffern am Kopfende." Sie schaut auf das doppelt so große Hotelbett und tupft sich die Augen. "Das ist alles, was ich zu erzählen habe. Die schlimmsten Geschichten erzähle ich nicht, ich kann sie nicht erzählen."Informationen zu Theresienstadt:
Theresienstadt (heute: Terezín in der Tschechischen Republik) liegt etwa 60 Kilometer nördlich von Prag. Die Festungsstadt diente von 1941 bis 1945 den Nationalsozialisten als Konzentrations- und Durchgangslager für die Transporte in die Vernichtungslager in Polen. Männer und Frauen lebten getrennt, Mädchen und Jungen bis zu 15 Jahren kamen nach Geschlechtern getrennt in Heime. Die Arbeitspflicht galt für alle arbeitsfähigen Personen ab 14 Jahren, 10 bis 12 Stunden pro Tag. In Theresienstadt starben von November 1941 bis August 1944 mehr als 33.000 Häftlinge. Die Gesamtzahl der dort Inhaftierten liegt bei über 140.000. Von den 97.000 aus Theresienstadt in die Vernichtungslager deportierten Menschen kehrten 3.100 zurück. Im "Zimmer 28" im Ghetto Theresienstadt wohnten von 1941 bis 1944 insgesamt fünfzig bis sechzig Mädchen zwischen 12 und 14 Jahren vorübergehend auf 30 Quadratmetern zusammen.

Am 23. Januar wird um 11 Uhr die Ausstellung zu "Die Mädchen von Zimmer 28" im Deutschen Bundestag, Westfoyer des Paul-Löbe-Hauses, Konrad-Adenauer-Str. 1, Berlin-Mitte, durch Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet. Öffnungszeiten: 24. Januar bis 15. Februar.
Buchtipp: Brenner-Wonschick, Hannelore: Die Mädchen vom Zimmer 28. Freundschaft, Hoffnung und Überleben in Theresienstadt. Berlin: Aufbau Verlag, Januar 2008. 19,95 Euro.
Weitere Informationen: www.room28projects.com und Room 28 e.V.ENDE

Nachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87


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