Abschied vom Vielvölkerstaat?
"Wenn wir in der Pause zusammen stehen und auf Russisch reden, fordern uns manche Kommilitonen auf, Kasachisch zu sprechen. Und wer den Dozenten auf Russisch antwortet, muss mit einer schlechteren Note rechnen." Was die 23-jährige Studentin Akbota Jylysowa, ethnische Kasachin, vom Universitätsalltag an ihrer Fakultät in Almaty erzählt, wird derzeit im zentralasiatischen 15-Millionen-Staat heiß diskutiert: Auf der Suche nach einer eigenen Identität 16 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist es besonders die Sprachenpolitik, mit der im Vielvölkerstaat Kasachstan Druck auf Minderheiten ausgeübt wird. "Mein Mann arbeitet bei der Polizei, er ist einer der wenigen verbliebenen Russen dort und fürchtet um seinen Job, weil er kein Kasachisch kann", sagt Olga Pawlenko, die aus der Ukraine stammt, und beschreibt damit ein Problem, mit dem heute in Kasachstan viele Russisch-Muttersprachler und Angehörige anderer Ethnien kämpfen: Vielerorts werden Kasachischkenntnisse gefordert, obwohl die Mehrheit im Land muttersprachlich Russisch spricht.
Die Regierung beschwört indes den Vielvölkerstaat: "Selbst vage Bemühungen sind unzulässig, die Rechte von Menschen wegen Unkenntnis der kasachischen Sprache zu beeinträchtigen ", sagte Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew im August 2007 in einer Rede vor der Volksversammlung Kasachstans. 130 ethnische Gruppen sollen in Kasachstan leben, 40 verschiedene Glaubensrichtungen gebe es. 54 Prozent der Einwohner seines 15-Millionen-Staates sind inzwischen ethnische Kasachen. Der Anteil der ethnischen Russen, der Anfang der 90er Jahre noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachte, ist inzwischen deutlich geschrumpft. Viele Russen haben dem Land den Rücken gekehrt haben. Doch weiterhin sind ungefähr 80 Prozent der Einwohner Russisch-Muttersprachler, denn selbst viele ethnische Kasachen sprechen die Turksprache nur als zweite Sprache. Kasachisch ist laut Verfassung die Staatssprache, Russisch und Kasachisch sind Amtssprachen. Jedes offizielle Dokument muss laut Gesetz in beiden Sprachen erhältlich sein.
Seit der Unabhängigkeit 1991 hat Kasachstan eine rasante Entwicklung genommen. Mit fast zehn Prozent Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren, reichen Vorkommen an Erdöl und Erdgas und Investitionen aus dem Ausland ist es das wirtschaftlich stärkste Land der fünf ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien. Doch das Land im Süden Russlands zwischen Tienschangebirge und Kaspischem Meer ist auf der Suche nach einer eigenen Identität. Die geht mit nationalistischen Tendenzen und einer teilweise rigiden Sprachenpolitik einher. "Wir bekommen Subventionen vom Ministerium in Astana", erzählt eine Sekretärin aus Almaty, die ihren Namen nicht nennen will. "Ich habe immer mit derselben Sachbearbeiterin zu tun, die mit mir Russisch sprach. Von einem Tag auf den anderen hat sie jedoch nur noch Kasachisch geredet, obwohl ich das gar nicht kann", erzählt sie. Chat-Foren im Internet dokumentieren wachsende Spannungen zwischen Kasachen und Russen: "Manche wollen wahrscheinlich nicht verstehen, dass Kasachstan kein Teil des russischen Imperiums ist, und die Russen keine Herren mehr sind", beschwert sich ein anonymer Schreiber. "Statt den Kasachen dankbar zu sein, dass sie den Russen und anderen Slawen gestattet haben, auf ihrem Territorium zu leben, klagen sie. Was wollen sie noch, vielleicht die Autonomie im Norden Kasachstans?"
Brautpaar am Denkmal / Cornelia Riedel, n-ost
Nach Beobachtung von Bulat Sultanow, Politikwissenschaftler am Institut für Strategische Studien der Republik Kasachstan, sind es vor allem die kasachischen Intellektuellen, Autoren und Poeten, die fordern, das Kasachische innerhalb kürzester Zeit durchzusetzen. "Unsere Schriftsteller fürchten zu Recht, dass eine eventuelle weitere Staatssprache, das Russische, die Entwicklung der kasachischen Sprache behindern würde", erklärt Sultanow. "Hier muss die richtige Balance gefunden werden, denn es besteht natürlich die Gefahr, dass Nicht-Kasachisch-Sprecher das Land verlassen. Jeder hat ein Recht auf seine Muttersprache."
Weniger moderat sehen dies die Schriftsteller Muchtar Schachanow und der Parlamentsabgeordnete Scherchan Murstasa. Sie sind Gründer der Partei "Chalik Ruchani" (der Geist des Volkes) und berufen sich auf "die Sprache als heilige Grundlage der Nation". Kernforderung der Partei: die Gründung einer Sprachenpolizei, die die Anwendung des Kasachischen überwacht. Der Almatyer Unternehmer und Journalist Adil Dschalilow glaubt nicht mehr an das einige Miteinander der Völker in seinem Heimatland. 50 Prozent der Diskussionen in den kasachisch-sprachigen Zeitungen würden sich mittlerweile um Sprache und Nationalismus drehen, erzählt er. Er sieht sogar Parallelen zum Deutschland der 30er Jahre. "Wer die kasachische Sprache fordert, dem sage ich: Stell Dir vor, 100 Prozent der Leute würden Kasachisch sprechen, wären dann etwa unsere anderen Probleme, die Armut auf dem Lande beispielsweise, gelöst?"
Weiterer Druck auf russische Muttersprachler wird zu zunehmender Emigration führen, fürchtet Dschalilow, der eine Journalistenschule betreibt. "Viele glauben, dass eine Karriere hier ohne fließendes Kasachisch nicht möglich ist und gehen beispielsweise nach Russland. Und das sind oft gut ausgebildete und fitte Leute." Druck kommt auch von ganz oben: Jermuchamet Jertysbajew, Kultur- und Informationsminister Kasachstans und verantwortlich für eine rigide Medienpolitik, sagt: "Die kasachische Kultur ist zwar offen für andere Kulturen, aber es ist ein Risiko, andere Kulturen zu akzeptieren, die nicht traditionell mit dem Kasachischen verbunden sind. Das kann die Vermischung einer fremden Kultur mit unserer bedeuten, den Verlust nationaler Identität und nationaler Kultur."
Wohl eindrucksvollstes Beispiel der Identitätssuche in Kasachstan ist die Route, die Brautpaare am Tag ihrer Hochzeit durch Almaty drehen. Am Platz der Republik legen Frischvermählte ihre Hände in den bronzenen Handabdruck des Präsidenten auf der Verfassung. "Das soll Glück bringen", sagt Bibigul Kumambetowa. Hier auf dem zentralen Platz der Stadt steht das Unabhängigkeitsdenkmal mit dem Schneeleoparden und dem Goldenen Mann, der Nachbildung eines Sakenkriegers, der in der Nähe von Almaty gefunden worden war - Symbole der kasachischen Kultur. Danach fährt jede Hochzeitsgesellschaft zur Ewigen Flamme und dem sowjetischen Kriegerdenkmal im nur wenige Kilometer entfernten Panfilow-Park, um die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs zu ehren.
Kasache und Russe / C. Krafchak, n-ost
"Die Kasachen, das sind die Titularnation, klar müssen wir deren Sprache sprechen, schließlich leben wir ja auch hier in Kasachstan", sagt Wassili, der ethnischer Russe ist. In den Panfilow-Park geht er im Dunkeln jedoch nicht mehr. "Als Russe ist mir das zu gefährlich, auch wenn es nur einfache Schläger sind", erzählt er.
Russen und Kasachen in Zentralasien - eine traumatische Geschichte
1731 unterzeichneten Teile der als Nomaden lebenden kasachischen Stämme im Kampf gegen das Volk der Dschungaren einen Beistandspakt mit Russland, der zur Eingliederung ins Russische Reich führte. Während der Zwangskollektivierung der nomadisierenden Bevölkerung unter Stalin starben fast zwei Millionen Menschen und eine weitere Million wanderte aus. Deportierte, Sträflinge und Siedler, darunter Tausende Deutschstämmige, kamen in diese Gebiete in der Steppe. Zu Sowjetzeiten lebten Kasachen und Russen weitgehend friedlich nebeneinander. Prägend für die russisch-kasachischen Beziehungen im Vielvölkerstaat war aber das Jahr 1986. Nach Absetzung des kasachischen Parteichefs Dinmuchamed Kunajew durch Michael Gorbatschow und Ersetzung durch den Russen Genadi Kolbin kam es zu ethnischen Auseinandersetzungen und blutigen anti-russischen Ausschreitungen in Almaty. Ein erst kürzlich errichtetes Denkmal am Platz der Republik erinnert heute an dieses Ereignis.
Nicolás de Pedro, spanischer Kasachstan-Experte, der sich mit Minderheiten in Kasachstan beschäftigt, sieht die Entwicklungen im Land zwiespältig: "Im Moment kann man in Kasachstan noch von einer interethnischen Harmonie sprechen. Aber die Politik der Kasachifizierung könnte ernste Probleme und Risiken für die Zukunft Kasachstans bedeuten", schätzt er ein. "Wenn sich die ökonomische Situation weiter so verbessert, scheint alles unter Kontrolle. Aber wie lange werden die 50 Prozent Nicht-Kasachen ihren Zweite-Klasse-Status im Land akzeptieren?", so de Pedro.
Seit Anfang 2007 seien einige Dokumente des Finanzamtes nur noch auf Kasachisch erhältlich, obwohl das nicht erlaubt sei, hat Sergej Melnik beobachtet. "Ich muss einen Freund bitten, mir beim Übersetzen zu helfen." Der 33-jährige ethnische Russe lebt gern in Kasachstan, "das ist meine Heimat, hier will ich bleiben!" Doch auch er kann sich vorstellen, irgendwann wegzugehen, sollte der Druck auf die Nicht-Kasachisch-Sprecher weiter zunehmen. "Ohne uns würden die Kasachen heute noch als Nomaden durch die Steppe reiten", fügt sein Freund, der seinen Namen nicht nennen will, sarkastisch hinzu.