Sehnsucht nach der alten Zeit
Viele Tschechen und Slowaken wünschen sich gemeinsamen Staat Sarlota hat keine Sekunde überlegen müssen, als der Mitarbeiter des Meinungsforschungsinstituts MVK anrief. „Ja klar, wenn es nach mir geht, sollten wir wieder in einem Staat leben“, sagte die 74-Jährige aus Bratislava dem jungen Mann am anderen Ende der Leitung. „Ich habe die Teilung der Tschechoslowakei vor 15 Jahren immer bedauert.“ Sarlota, die Slowakin, die regelmäßig ins Tschechische Zentrum am Rande der Altstadt von Bratislava pilgert, steht mit ihrer Ansicht nicht allein: 41,7 Prozent der vom MVK im Auftrag der größten slowakischen Qualitätszeitung „Sme“ befragten Slowaken votierten für eine Erneuerung des gemeinsamen Staates mit den Tschechen. 40,8 Prozent waren dagegen. Ein bemerkenswertes Ergebnis nach vielen Jahren staatlicher Eigenständigkeit. „Vor allem ältere Menschen sehnen sich zurück“, sucht der Soziologe Pavel Haulik nach einer Erklärung für die nostalgischen Gefühle. „Sie haben nur beste Erinnerungen an den gemeinsamen Staat.“ Und sie könnten den Politikern von damals bis heute nicht verzeihen, dass sie das Land im Alleingang demontierten, ohne die Leute nach ihrer Meinung zu fragen. In der Tat gab es seinerzeit vor allem im tschechischen Landesteil massive Rufe nach einem Referendum. Das scheiterte schließlich an der Schwierigkeit der Fragestellung. 1992 hätte es nicht genügt zu fragen, ob die Tschechoslowakei weiter bestehen solle oder nicht. Die Frage hätte vielmehr lauten müssen, wie die Föderation tatsächlich funktionieren könne. Zu kompliziert für eine Volksbefragung. Die tschechischen Politiker mit Vaclav Klaus an der Spitze wollten so viel wie möglich von den gemeinsamen Institutionen bewahren; die slowakischen unter Führung von Vladimir Meciar hätten sich maximal mit einem gemeinsamen Außenministerium anfreunden können. Als sich beide Protagonisten bei den entscheidenden Verhandlungen in der Brünner Villa Tugendhat gegenüber saßen, merkten sie schnell, dass ihre Vorstellungen nicht zueinander passten. Sie entschlossen sich zu einem Ende mit Schrecken, um einem Schrecken ohne Ende aus dem Weg zu gehen. In den Dörfern der Weißen Karpaten, durch die die Grenze zwischen beiden Landesteilen verläuft, lachte man seinerzeit. „Was gehen uns die Politiker an“, fragten sich die Leute. „Entscheidend ist, dass die Pflaumenernte ordentlich ausfällt. Davon hängt ab, wieviel Slibowitz wir brennen können.“ So redeten sie auch in Sidonie. Die Behörden hatten versprochen, dass sich so viel nicht ändern werde für die rund 300 Einwohner, die mitten auf der damals bedeutungslosen Grenze lebten. Doch plötzlich wurde doch ein Grenzübergang eingerichtet, mussten die Leute auf dem Weg von und zur Arbeit ins neue Nachbarland schon mal die Tasche oder den Kofferraum öffnen. Sidonie hieß fortan offiziell nur noch der tschechische Teil des Dorfes; der slowakische wurde in Sidonia umbenannt. Diese sprachliche Spitzfindigkeit der stolzen Slowaken wäre noch zu verkraften gewesen. Doch die Zeiten wurden rasch härter. Die „Neu-Slowaken“ mussten immer ins „Ausland“ für wichtige Gänge. Zur Telefonzelle etwa, in den Krämerladen oder in die Kneipe „U pekaru“. Bis den Leuten der Kragen platzte. Sie nervten die Behörden in Prag und in Bratislava mit Eingaben, wollten den Tschechen zugehören und die widernatürliche Teilung ihres Dorfes nicht akzeptieren. 1996 dann vollführten beide Regierungen ein Tauschgeschäft: Sidonie und Sidonia wurden wiedervereinigt und tschechisch; das ebenfalls geteilte U Sabotu ging dafür geschlossen an die Slowakei.Nur die Familie von Marian Dobrotka hatte Pech. Die hatte sich erst Anfang der 1990er Jahre ein Haus am Rand von Sidonie gebaut, das seit der Trennung der Tschechoslowakei auf slowakischem Territorium liegt. Sobald sie aber vor die Tür treten, stehen sie in Tschechien. Warum nicht auch ihr Grundstück Tschechien zugeschlagen wurde, konnte oder wollte ihnen niemand erklären.„Wenn hier eines Tages die Schengen-Grenze verläuft, müssen wir wohl ein Loch in den Zaun schneiden“, lächelten die Dobrotkas vor Jahren gequält. Glücklicherweise kam es anders. Kurz vor Weihnachten wurde der Schengen-Raum um Tschechien und die Slowakei gleichermaßen erweitert; die Außengrenze des Schengen-Raumes liegt nun an der Ukraine. Und Dobrotkas und die anderen Leute von Sidonie haben ein großes Problem weniger. Der Schlagbaum am Ende des Ortes ist bereits abmontiert.
Ohne Probleme studieren viele junge Tschechen in der slowakischen Hauptstadt Bratislava.
Andreas MetzSchengen hat in der Tat viele Tschechen und Slowaken einander wieder näher gebracht. „Es ist vor allem eine gefühlte Erleichterung“, sagt der slowakische Soziologe Lubomir Faltan. Der Vorsitzende des Verbands der in Tschechien lebenden Slowaken, Peter Liptak, erinnerte vor der Grenzöffnung noch einmal daran, dass die Errichtung einer überwachten Grenze von vielen Leuten als ein „Unrecht“ empfunden wurde, das jetzt zumindest teilweise beseitigt werde. Doch so einschneidend war die Trennung vor 15 Jahren gar nicht. Junge Slowaken etwa studieren ohne jede Beschränkung in Prag oder Brünn, wie auch umgekehrt Tschechen in Bratislava oder Kosice. An den Kassen tschechischer Supermärkte sitzen viele Slowakinnen. Manche verabschieden ihre Kunden auch schon mal mit dem gewohnten „Dovidenia“ statt mit dem tschechischen „Na shledanou“. Die Tschechen geben den Gruß aber prinzipiell auf Tschechisch zurück. Wie bei ihnen die Nostalgie auch weit weniger ausgeprägt ist.Viele Tschechen empfinden das Drängen der Slowaken auf mehr Eigenständigkeit bis heute als „Verrat“. Intellektuelle vermissen den „slowakischen Abend“ im Fernsehen, an dem über viele Jahre slowakische Theater ihre Inszenierungen vorstellten, und der hohe Einschaltquoten hatte. Einige Probleme bereitet es ihnen auch, slowakische Tageszeitungen zu bekommen. An den Kiosken herrscht da Fehlanzeige – im Gegensatz zur Slowakei, wo man die großen tschechischen Blätter wie ganz selbstverständlich erhält. Wirklich problematisch ist, dass die tschechischen Kinder kaum mehr Slowakisch verstehen, obwohl sich das vom Tschechischen nicht so sehr unterscheidet. Zweisprachige Fibeln, die zu tschechoslowakischen Zeiten Pflicht waren, gibt es nicht mehr. Umgekehrt taten in der Slowakei Nationalisten alles, um das Tschechische zu verbannen. Kindersendungen fürs Fernsehen aus dem Ausland mussten grundsätzlich ins Slowakische synchronisiert werden; Tschechisch wollte man den Kindern nicht zumuten. Doch auch da wird mittlerweile wieder etwas zurückgerudert. Politisch geht es zwischen Tschechen und Slowaken ziemlich reibungslos. Die Beziehungen lägen „über dem Standard“, lautet die gängige Formel auf beiden Seiten der Morava (March). Ein Witz der Geschichte ist, dass die Slowaken den Tschechen auf dem Gebiet der Wirtschaftsentwicklung häufig voraus sind. Zwar liegt das Bruttosozialprodukt noch ebenso unter tschechischem Niveau wie die Löhne; die Entwicklung in der Slowakei ist dennoch dynamischer. Der frühere slowakische Regierungschef Mikulas Dzurinda wurde wegen seiner Reformfreude auf Parteitagen der tschechischen Demokratischen Bürgerpartei wie ein Popstar gefeiert. Die Bürgerpartei ist einst von Vaclav Klaus gegründet worden, der bis heute für sich in Anspruch nimmt, weit und breit im Osten der einzige gewesen zu sein, der etwas von Wirtschaft versteht. Zur Zeit der Trennung vor 15 Jahren lächelten die Tschechen mitleidig über die „armen Brüder im Osten“. Solcherlei Großmannssucht verkneifen sie sich heute. Eine echte Konkurrenz zwischen Tschechen und Slowaken vermag eigentlich nur noch der Sport zu erzeugen. Die Slowaken haben bis heute schlechte Erinnerungen daran, dass sie nach der Teilung der Tschechoslowakei in ihrem Nationalsport Eishockey in die C-Gruppe der Weltmeisterschaft verfrachtet wurden, während die Tschechen weiter in der Eliteklasse dem Puck nachjagen durften. Als die Slowaken dann zum ersten Mal Weltmeister wurden, war der Jubel größer als zu den Feiern der Selbstständigkeit. Doch die Konkurrenz hört spätestens dann auf, wenn Tschechen oder Slowaken aus einem WM-Turnier ausscheiden. „Wenn die Tschechen weiterkommen, drücke ich natürlich ihnen die Daumen“, sagt eine Slowakin, die in Prag beim tschechischen Dienst von Google arbeitet. Und sie weiß, dass ihre tschechischen Kollegen das umgekehrt auch so mit den Slowaken halten. „Das ist ein bisschen so, wie die Deutschen sagen: Sex mit dem Ex.“ ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig.
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